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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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vorstellen, dass meine Eltern mit ihren Freunden über solche Dinge reden konnten«, sagte Helena. »Dabei ging bei ihnen nun wirklich alles schief. So ist es bei uns ja letztlich doch nicht.«
    »In welcher Hinsicht?«, sagte Christina.
    »Mein Vater ist Örebros Perückenkönig. Er stellt Toupets her. Seine erste Frau, meine Mutter, ist Alkoholikerin. Sie ist
so widerwärtig, dass ich sie kaum besuchen kann. Und wenn ich es tue, bin ich hinterher wochenlang völlig fertig. Aber als Vater zum zweiten Mal heiratete, war seine neue Frau auch Alkoholikerin.«
    Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und fügte einige Tics hinzu, mit denen sie die Frau ihres Vaters perfekt charakterisierte. Ich war ihr einmal begegnet, bei der Taufe von Helenas Kind, sie war gleichzeitig sehr streng und völlig aufgelöst gewesen. Helena lachte oft über sie.
    »Als ich klein war, stachen sie Spritzen in die kleinen Fruchtgetränkekartons, ihr wisst schon, und füllten sie mit Schnaps. Damit es ganz unschuldig aussah. Ha ha ha! Und als ich bei meiner Mutter einmal alleine in den Ferien war, gab sie mir eine Schlaftablette, schloss die Tür von außen ab und verschwand in die Stadt.«
    Alle lachten.
    »Aber heute ist sie viel schlimmer als damals. Sie ist eine Art Monster. Frisst uns auf, wenn wir kommen. Denkt nur an sich, etwas anderes gibt es nicht. Trinkt und benimmt sich die ganze Zeit widerwärtig.«
    Sie sah mich an.
    »Dein Vater hat auch getrunken, stimmt’s?«
    »Das kann man wohl sagen«, antwortete ich. »Allerdings nicht, als ich klein war. Er fing erst damit an, als ich sechzehn war. Und starb, als ich dreißig war. Vierzehn Jahre hat er es so getrieben. Er hat sich schlicht und ergreifend totgesoffen. Und im Grunde glaube ich, dass er das auch wollte.«
    »Kannst du uns nicht eine lustige Anekdote über ihn erzählen?« , fragte Anders.
    »Es ist nicht gesagt, dass Karl Ove das gleiche genüssliche Verhältnis zu seinem eigenen Unglück hat wie du zum Unglück anderer«, bemerkte Helena.
    »Nein, nein, das ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Ich empfinde
heute nichts mehr dabei. Ich weiß nicht, ob es lustig ist, aber egal: Am Ende wohnte er bei seiner Mutter. Trank natürlich die ganze Zeit. Eines Tages fiel er die Treppe zum Wohnzimmer hinunter. Ich glaube, er brach sich das Bein. Vielleicht war es aber auch nur eine schwere Verstauchung. Jedenfalls kam er nicht mehr von der Stelle und blieb auf dem Fußboden liegen. Großmutter wollte einen Krankenwagen rufen, aber das wollte er nicht. Also blieb er dort liegen, auf dem Boden des Wohnzimmers, und sie bediente ihn. Brachte ihm etwas zu essen und Bier. Ich habe keine Ahnung, wie lange das so ging. Ein paar Tage, vielleicht. Am Ende fand ihn mein Onkel. Da lag er immer noch da.«
    Alle lachten, auch ich.
    »Und wie war er, als er nicht trank?«, fragte Anders. »Die ersten sechzehn Jahre?«
    »Er war ein Teufel. Ich hatte panische Angst vor ihm. Eine richtige Scheißangst. Ich erinnere mich … als Kind bin ich gern geschwommen, im Winter ins Hallenbad zu gehen, war für mich der Höhepunkt der Woche. Einmal hatte ich dort eine Socke verloren. Ich konnte sie nicht mehr finden. Ich suchte und suchte, aber sie war verschwunden. Ich bekam schreckliche Angst. Es war ein Alptraum.«
    »Warum?«, sagte Helena.
    »Weil es die Hölle sein würde, wenn er es herausfand.«
    »Dass du eine Socke verloren hattest?«
    »Ja, genau. Die Gefahr, dass er es merken würde, war im Grunde nicht besonders groß, ich musste mich ja bloß hineinschleichen und schnell ein neues Paar Socken anziehen, aber ich hatte trotzdem auf dem ganzen Heimweg panische Angst. Ich öffne die Tür. Keiner da. Ziehe die Schuhe aus. Und wer kommt, Vater natürlich. Und was tut er. Steht da und guckt zu, während ich mich ausziehe.«
    »Was ist dann passiert?«, sagte Helena.
    »Er gab mir eine Ohrfeige und sagte, dass ich nie mehr ins Hallenbad gehen dürfte«, sagte ich und grinste.
    »Ha ha ha!«, lachte Geir. »Das ist ein Mann nach meinem Geschmack. Konsequent bis ins kleinste Detail.«
    »Und, hat dein Vater dich auch geschlagen?«, sagte Helena.
    Geir wand sich ein wenig.
    »Es gab da einige Elemente traditioneller norwegischer Kindererziehung. Ihr wisst schon, über die Knie und runter mit der Hose. Aber er schlug mich niemals ins Gesicht, er schlug mich auch nie aus heiterem Himmel, wie Karl Oves Vater es tat. Es war eine simple Strafe. Ich empfand sie als angemessen. Aber es machte ihm keinen Spaß.

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