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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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»Damals war alles erlaubt.«
    »Meine Mutter ist mir oft peinlich gewesen, sie ist ein Mensch ohne jede Scham, macht die unerhörtesten Dinge, und wenn sie es tat, um mich zu beschützen, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.«
    »Und dein Vater?«, sagte Geir.
    »Das ist eine ganz andere Geschichte. Wenn er krank wurde, war er völlig unberechenbar, alles konnte passieren. Gleichzeitig mussten wir warten, bis er etwas wirklich Schreckliches tat, vorher konnte die Polizei ihn nicht abholen. Wir mussten oft wegfahren, meine Mutter, mein Bruder und ich. Schlicht und ergreifend fliehen.«
    »Was hat er denn eigentlich gemacht?«, sagte ich und sah sie an. Sie hatte mir zwar von ihrem Vater erzählt, aber immer nur ganz allgemein, fast ohne Details.
    »Oh, alles Mögliche. Er kletterte am Fallrohr hoch oder warf sich durchs Fenster. Er konnte gewalttätig werden. Blut und zersplittertes Glas und Gewalt. Aber daraufhin kam ja die Polizei. Dann war es wieder gut. War er bei uns, wartete ich die ganze Zeit auf die Katastrophe. Wenn sie schließlich eintraf, blieb ich ruhig. Deshalb empfinde ich es heute fast als Erleichterung, wenn das Schlimmste eintritt. Ich weiß , dass ich damit umgehen kann. Der Weg dorthin dagegen ist schwierig.«
    Es entstand eine Pause.
    »Jetzt fällt mir eine Geschichte ein!«, sagte Linda. »Es passierte, als wir einmal vor Vater abhauen mussten und zu Großmutter in Nordschweden fuhren. Ich war ungefähr fünf und mein Bruder sieben. Als wir nach Stockholm zurückkamen, war unsere Wohnung voller Gas. Vater hatte den Hahn aufgedreht und es tagelang ausströmen lassen. Als Mutter aufschloss, wurde die Tür vom Druck regelrecht aufgepresst. Sie drehte sich zu uns um und sagte, Mathias solle mit mir auf die Straße hinuntergehen und wir sollten dort bleiben. Sie wartete, bis wir fort waren, ehe sie in die Wohnung ging und das Gas abdrehte. Auf der Straße sagte Mathias, und ich weiß es noch genau, du weißt, dass Mama jetzt sterben kann? Ja, antwortete ich, das wisse ich. Später an jenem Tag hörte ich zufällig, als Mutter mit ihm telefonierte. Hast du versucht,
uns umzubringen?, fragte sie. Und das war nicht als Übertreibung gemeint, sondern als nüchterne Feststellung. Willst du uns umbringen?«
    Linda lächelte.
    »Das wird man wohl kaum toppen können«, bemerkte Anders und wandte sich Christina zu. »Jetzt bist noch du übrig. Wie sind deine Eltern? Sie leben noch, stimmt’s?«
    »Ja«, sagte Christina. »Aber sie sind alt. Sie wohnen in Uppsala und sind Mitglieder der Pfingstbewegung. Ich wuchs dort auf und hatte wegen allen möglichen Dingen und bei jeder Kleinigkeit Schuldgefühle. Aber es sind gute Menschen, das ist nun einmal ihr Leben. Wenn der Schnee schmilzt und der Streusand des Winters auf dem Asphalt zurückbleibt, wisst ihr, was sie dann tun?«
    »Nein?«, sagte ich, da sie mich ansah.
    »Sie fegen ihn auf und geben ihn dem Straßenbauamt zurück.«
    »Wirklich?«, sagte Anders. »Ha ha ha!«
    »Sie trinken selbstverständlich keinen Tropfen Alkohol. Aber Vater trinkt außerdem weder Kaffee noch Tee. Wenn er es sich morgens gut gehen lassen will, trinkt er heißes Wasser.«
    »Das glaube ich nicht«, sagte Anders.
    »Es stimmt aber trotzdem«, sagte Geir. »Er trinkt heißes Wasser, und den Sand vor ihrer Haustür geben sie dem Straßenbauamt zurück. Sie sind so gut, dass man einfach nicht mit ihnen zusammen sein kann. Ich bin mir sicher, dass sie mich als Schwiegersohn bekommen haben, betrachten sie als eine Prüfung des Teufels.«
    »Und wie war es, dort aufzuwachsen?«, sagte Helena.
    »Ich dachte natürlich lange, die ganze Welt wäre so, dass sie so aussähe. All meine Freunde und alle Freunde meiner Eltern gehörten ja der Gemeinde an. Es gab kein Leben außerhalb.
Als ich damit brach, brach ich gleichzeitig mit allen Freunden.«
    »Wie alt warst du da?«
    »Zwölf«, antwortete Christina.
    »Zwölf?«, sagte Helena. »Woher hast du die Kraft genommen? Oder den Überblick?«
    »Ich weiß nicht. Ich habe es einfach getan. Aber es war hart, das war es wirklich. Immerhin verlor ich meine ganzen Freunde.«
    »Mit zwölf Jahren?«, sagte Linda.
    Christina nickte und lächelte.
    »Dann trinkst du heute Kaffee zum Frühstück?«, sagte Anders.
    »Ja«, antwortete Christina. »Aber wenn ich bei ihnen bin nicht.«
    Wir lachten. Ich stand auf und begann, die Teller abzuräumen. Geir stand auch auf, nahm seinen eigenen in die Hand und folgte mir in die Küche.
    »Hast du

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