Lieben: Roman (German Edition)
Ich denke, er sah es als eine Pflicht, die er tun musste. Mein Vater war sehr lieb. Ein guter Mensch. Ich trage ihm nichts nach. Auch deshalb nicht. Es passierte in einer ganz anderen Kultur als dieser hier.«
»Das kann ich von meinem Vater nicht behaupten«, erklärte Anders. »Also, ich will hier nicht über meine Kindheit reden und die ganze psychologische Kacke darin. Aber als ich älter wurde, waren wir, wie gesagt, reich, und nach dem Abitur trat ich als eine Art Kompagnon in seine Firma ein. Lebte das fantastische Oberschichtleben. Dann ging er auf einmal pleite und es stellte sich heraus, dass er betrogen und gelogen hatte. Und ich hatte alles unterschrieben, was er mir vorgelegt hatte. Ich musste zwar nicht ins Gefängnis, schulde dem Finanzamt aber bis heute so riesige Summen, dass alles, was ich für den Rest meines Lebens verdiene, dafür draufgehen wird, meine Schulden abzuzahlen. Deshalb habe ich keine richtigen Jobs mehr. Es geht nicht, das Finanzamt würde sich alles holen.«
»Und was ist mit deinem Vater passiert?«, fragte ich.
»Er ist abgehauen. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, wo er ist. Irgendwo im Ausland. Ich will ihn auch gar nicht sehen.«
»Aber deine Mutter ist hiergeblieben«, sagte Linda.
»Allerdings«, meinte Anders. »Verbittert und verlassen und pleite.«
Er lächelte.
»Ich bin ihr ja mal begegnet«, sagte ich. »Nein, zwei Mal. Sie ist wirklich sehr unterhaltsam. Sitzt auf einem Hocker in der Ecke und wirft allen, die zuhören wollen, sarkastische Bemerkungen an den Kopf. Sie hat jede Menge Humor.«
»Humor?«, sagte Anders und begann, sie nachzuahmen, ihre gebrochene Altfrauenstimme, die seinen Namen rief und wegen allem an ihm herummäkelte.
»Meine Mutter hat Angst«, sagte Geir. »Und das sabotiert alles in ihrem Leben oder stellt es in den Schatten. Sie will alle in ihrer Nähe haben, immer. Als Kind war das die Hölle für mich, und es hat mich ungeheuer viel Kraft gekostet, mich zu befreien. Ihre Methode, mich festzuhalten, bestand darin, mir Schuldgefühle einzuimpfen. Ich habe mir verboten, welche zu haben. Auf die Art bin ich davongekommen. Der Preis dafür ist jedoch, dass wir praktisch nicht miteinander reden. Es ist ein hoher Preis, aber er ist die Sache wert.«
»Was heißt Angst?«, sagte Anders.
»Wie sie sich bemerkbar macht?«
Anders nickte.
»Vor Menschen hat sie keine Angst. Auf die kann sie ganz offen, völlig furchtlos zugehen. Sie hat Angst vor Räumen. Wenn wir mit dem Auto unterwegs waren, hatte sie zum Beispiel immer ein Kissen dabei. Es lag auf ihrem Schoß. Bei jedem Tunnel, durch den wir fuhren, beugte sie sich vor und legte sich das Kissen auf den Kopf.«
»Wirklich?«, sagte Helena.
»Ja klar. Jedes Mal. Wir mussten ihr Bescheid sagen, sobald wir aus dem Tunnel heraus waren. Davon ausgehend entwickelte sich die Sache weiter, denn plötzlich konnte sie nicht
mehr auf Straßen fahren, die mehrspurig waren, sie ertrug es nicht, Autos so dicht vorbeifahren zu sehen. Und als Nächstes konnte sie nicht mehr am Wasser entlangfahren. Das machte es uns fast unmöglich, in Urlaub zu fahren. Ich erinnere mich, dass mein Vater wie ein General vor einer Schlacht über die Karte gebeugt stand, während er versuchte, eine Route ohne Autobahnen, Gewässer und Tunnel zu finden.«
»Dann ist meine Mutter das genaue Gegenteil von deiner«, sagte Linda. »Sie fürchtet sich vor nichts und niemandem. Ich glaube, sie ist der furchtloseste Mensch, den ich kenne. Ich erinnere mich, dass ich früher mit ihr auf dem Fahrrad durch die Stadt zum Theater gefahren bin. Sie fuhr schnell, auf den Bürgersteig hinauf, zwischen den Leuten hindurch, wieder auf die Straße. Einmal wurde sie von der Polizei angehalten, aber es war nicht etwa so, dass sie zu allem brav genickt und zugehört und ihr Verhalten bedauert hätte, das wird nie wieder vorkommen. Oh nein, sie war beleidigt. Es war ihre Sache, wo sie Fahrrad fuhr. So war meine ganze Kindheit. Wenn sich ein Lehrer über mich beschwerte, schnauzte sie ihn an. Ich machte nichts verkehrt. Ich hatte immer Recht. Als ich sechs war, ließ sie mich alleine nach Griechenland in Urlaub fahren.«
»Alleine?«, sagte Christina. »Nur du allein?«
»Nein, zusammen mit einer Freundin und ihrer Familie. Aber ich war sechs, und zwei Wochen alleine mit einer fremden Familie in einem fremden Land waren vielleicht des Guten ein bisschen zu viel, oder?«
»Das waren die Siebziger«, erklärte Geir.
Weitere Kostenlose Bücher