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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Minuten gedauert hatte. Linda schnaubte, als ich ihr davon erzählte.
    »Das brauchst du dir nicht anzuhören«, sagte sie. »Geh einfach nicht an den Apparat, wenn er das nächste Mal anruft.«
    »Das stört mich nicht«, sagte ich.
    »Aber mich«, erwiderte sie.
     
    Lindas Dokumentation enthielt nichts von all dem. Außer seiner Stimme hatte sie alles weggeschnitten. Doch dafür lag in ihr auch alles. Er erzählte aus seinem Leben, und seine Stimme war voller Trauer, als er darüber sprach, wie seine Mutter gestorben war, voller Freude, wenn er über die ersten Jahre als Erwachsener redete, voller Resignation, als es um den Umzug nach Stockholm ging. Er erzählte, welche Probleme er mit dem Telefon hatte, welcher Fluch diese Erfindung für ihn war, dass er es während langer Phasen in den Schrank stellte. Er erzählte von seinem normalen Tagesablauf, aber auch von seinen Träumen, sein größter war, einmal ein eigenes Gestüt zu besitzen. Er trat als eigenständiger Mensch hervor, und seine Erzählung hatte etwas Hypnotisches, schon nach den ersten Sätzen wurde man in seine Welt gesogen. Aber in erster Linie
ging es natürlich um Linda. Als ich hörte, was sie gemacht hatte, oder wenn ich las, was sie schrieb, kam ich dem Menschen, der sie war, so nahe. Es kam mir vor, als würde das Ureigene, das sich in ihr bewegte, dann erst wirklich sichtbar. Im tagtäglichen Leben verschwand es in dem, was wir taten und was alle taten, und darin erblickte ich nichts von dem, worin ich mich so verliebt hatte. Ich hatte es vielleicht nicht vergessen, dachte aber nicht daran.
    Wie war das möglich?
    Ich sah sie an. Sie versuchte, die Erwartungen in dem Blick, mit dem sie meinem begegnete, zu verbergen. Ließ ihn ein wenig zu leicht zu dem Rekorder auf dem Tisch und dem Kabelgewirr, auf dem er stand, schweifen.
    »Du brauchst nichts mehr zu verändern«, sagte ich. »Sie ist fertig.«
    »Findest du sie gut?«
    »Allerdings. Großartig.«
    Ich legte den Kopfhörer auf den Rekorder, streckte mich und blinzelte mehrmals.
    »Ich war gerührt«, sagte ich.
    »Worüber?«
    »Sein Leben ist doch im Grunde eine Tragödie. Aber wenn er davon erzählt, füllt es sich mit Leben, man begreift, das ist ein Leben . Mit einem ganz eigenen Wert, unabhängig davon, was mit ihm passiert ist. Das sind natürlich Selbstverständlichkeiten, aber es ist eine Sache, es zu wissen, eine ganz andere, es zu fühlen. Und das habe ich getan, als ich ihm zugehört habe.«
    »Das freut mich unheimlich«, sagte sie. »Dann muss ich vielleicht nur noch die Lautstärke ein bisschen regulieren. Das kann ich am Montag erledigen. Aber bist du dir auch wirklich sicher?«
    »So sicher ich nur sein kann«, sagte ich und stand auf. »Jetzt gehe ich eine rauchen.«
    Im Hinterhof wehte ein kalter Wind. Die beiden einzigen Kinder im Haus, ein neun oder zehn Jahre alter Junge und seine elf oder zwölf Jahre alte Schwester traten vor dem Tor am anderen Ende einen Ball zwischen sich hin und her. Aus dem Glenn Miller Café, das in der Straße jenseits der Mauer lag, ertönte laute, intensive Musik. Ihre Mutter, die mit ihnen alleine in der obersten Etage lebte und mehr als verlebt aussah, hatte das Fenster geöffnet. Dem charakteristischen Klirren und den dumpfen Lauten nach zu urteilen, die von dort ins Freie drangen, spülte sie gerade. Der Junge war dicklich und hatte, vermutlich als Kompensation dafür, borstenkurze Haare, damit er ein bisschen härter wirkte. Er hatte immer blaue Schatten unter den Augen. Wenn seine Schwester Freundinnen zu Besuch hatte, trickste er alleine oder kletterte demonstrativ selbständig im Klettergerüst. An Abenden wie diesen, wenn die beiden allein waren und sie nichts Besseres vorhatte, als mit ihrem Bruder zu spielen, ging es ihm besser, war er eifriger, wollte er gut sein. Ab und zu riefen und schrien sie dort oben, manchmal alle drei, aber die meiste Zeit nur er und seine Mutter. Zwei Mal hatte ich den Vater vorbeikommen und die Kinder abholen sehen; ein kleiner, dünner und verzagter Bursche, der eindeutig zu viel trank.
    Die Schwester ging zur Mauer und setzte sich. Sie zog ein Handy aus der Tasche, und wo sie saß, war es so dunkel, dass das blaue Licht des Displays ihr ganzes Gesicht schimmern ließ. Ihr Bruder schoss den Ball nun immer wieder gegen die Wand. Peng. Peng. Peng.
    Seine Mutter steckte den Kopf zum Fenster heraus.
    »Hör auf damit!«, rief sie. Der Junge bückte sich wortlos, nahm den Ball in die Hand und setzte sich

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