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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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neben seine Schwester, die den Oberkörper abwandte, ohne auch nur kurz den Fokus ihrer Aufmerksamkeit zu verändern.
    Ich schaute zu den beleuchteten Türmen der Kungsgatan
hinauf. Etwas Zärtliches und Schmerzliches durchzuckte mich.
    Oh, Linda, Linda.
    In diesem Augenblick kam unsere Nachbarin aus der Nachbarwohnung durchs Tor herein. Ich beobachtete sie, wie sie problemlos die Pforte hinter sich schloss. Sie war in den Fünfzigern, wie Frauen über fünfzig heutzutage sind, will sagen, mit einer gewissen, künstlich bewahrten Jugendlichkeit. Sie hatte volles, blond gefärbtes Haar, trug eine Pelzjacke und hielt ihren kleinen, neugierigen Hund eng an der Leine. Sie hatte einmal gesagt, sie sei Künstlerin, ohne dass mir wirklich klar geworden wäre, was sie genau machte. Ein Munch-Typ war sie jedenfalls nicht gerade. Manchmal war sie überaus gesprächig, und dann erfuhr ich, dass sie im Sommer in die Provence oder zu einem Wochenendtrip nach New York oder London fahren würde. Manchmal sagte sie kein Wort und ging grußlos an mir vorbei. Sie hatte eine Tochter im Teenageralter, die ungefähr zur selben Zeit wie wir ein Kind bekommen hatte und von ihr herumkommandiert wurde.
    »Wollten Sie nicht aufhören zu rauchen?«, sagte sie jetzt, ohne langsamer zu werden.
    »Es hat noch nicht zwölf geschlagen«, erwiderte ich.
    »So, so«, sagte sie. »Heute Nacht wird es schneien. Jede Wette!«
    Sie ging ins Haus. Ich wartete kurz, dann warf ich die Kippe in den Blumentopf, den jemand zu diesem Zweck mit dem Boden nach oben an die Wand gestellt hatte, und folgte ihr. Meine Knöchel waren von der Kälte rot. Ich nahm die Treppe in kleinen Sprüngen, öffnete die Tür, zog Mantel und Schuhe aus und ging zu Linda, die auf der Couch saß und fernsah. Ich lehnte mich vor und küsste sie.
    »Was siehst du dir an?«, sagte ich.
    »Nichts. Wollen wir einen Film gucken?«
    »Ja.«
    Ich ging zum DVD-Regal.
    »Was möchtest du sehen?«
    »Keine Ahnung. Such was aus.«
    Ich ließ den Blick über die Titel schweifen. Wenn ich Filme kaufte, tat ich es mit dem Gedanken, dass sie meinen Horizont erweitern sollten. Dass sie eine eigenwillige Bildsprache haben mussten, mit der ich mich beschäftigten konnte, oder eine Beziehung in Richtungen treiben sollten, deren Möglichkeit mir niemals in den Sinn gekommen wäre, oder in einer Zeit oder einer Kultur spielten, die mir fremd war. Kurzum, ich wählte die Filme also aus all diesen wahnwitzigen Gründen aus, denn wenn es dann Abend wurde und wir uns einen von ihnen ansehen wollten, konnten wir uns natürlich niemals aufraffen, uns zwei Stunden lang eine japanische Begebenheit in Schwarzweiß aus den Sechzigern oder die weiten offenen Flächen italienischer Vorstädte anzusehen, in denen nichts passierte, außer dass sich bildschöne Menschen begegneten, die gründlich der Welt entfremdet waren, wie es in den Filmen früher üblich war. Nein, wenn es Abend wurde und wir auf die Idee kamen, einen Film zu sehen, wollten wir natürlich unterhalten werden. So leicht und unmerklich wie möglich musste das geschehen. Es war bei allem das Gleiche. Ich las kaum noch Bücher; lag eine Zeitung griffbereit, las ich lieber sie. Und die Hürde wurde immer höher. Es war idiotisch, denn dieses Leben gab einem nichts, ließ nur die Zeit vergehen. Sahen wir einen guten Film, wirbelte er etwas in uns auf und setzte Dinge in Bewegung, denn so ist es doch, die Welt ist immer gleich, die Art, in der wir sie betrachten, verändert sich. Der Alltag, der uns manchmal niederdrückte, wie ein Fuß einen Kopf niederdrückt, konnte uns ebenso gut zu etwas Freudvollem erheben. Alles hing vom sehenden Auge ab. Betrachtete das Auge beispielsweise das Wasser, das in den
Filmen Tarkowskis allgegenwärtig war und ihre Welten in eine Art Terrarium verwandelte, in dem alles floss und rann, trieb und schwamm, in dem zuweilen alle Figuren das Bild verließen und nur ein Tisch mit Kaffeetassen stehen blieb, die sich langsam mit fallendem Regen füllten vor einer intensiv, ja fast bedrohlich grünen Vegetation im Hintergrund, dann würde das Auge ebenso fähig sein zu sehen, wie sich die gleiche wilde, existentielle Tiefe auch im Alltag öffnete. Denn wir waren Fleisch und Blut, Sehnen und Knochen, um uns wuchsen Pflanzen und Bäume, schwirrten Insekten, flogen Vögel, trieben Wolken, fiel Regen. Der Blick, der unserer Welt Sinn schenkte, war stets eine Möglichkeit, aber wir entschieden uns fast immer gegen ihn, jedenfalls war es

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