Lieben: Roman (German Edition)
sie war dreißig, das Mädchenhafte der Pose war viel zu klein für sie, was ihr offensichtlich bewusst war, denn auf ihren Lippen lag Missbilligung, und alles an ihr schrie vor innerer Zerrissenheit. Sie wollte das nicht tun, wollte ihn aber auch nicht zurückweisen. Eine Zurückweisung hätte er nicht verstanden, sie würde ihn verletzen, also musste sie dort einen Moment sitzen bleiben und zulassen, dass er sie tätschelte, bis es nicht mehr abweisend wirkte aufzustehen und sie wieder vor ihm im Zimmer stand.
Ich wich einen Schritt zurück, damit die Situation für sie
nicht noch unerträglicher wurde, weil sie einen Zeugen hatte. Als sie in den Flur kam, betrachtete ich die Bilder an der Wand. Sie zog ihren Mantel an. Ihr Vater kam zu uns, um sich zu verabschieden, er umarmte mich wie zuletzt, sah Vanja an, die im Wagen schlief, umarmte Linda, stand in der Tür und folgte uns mit den Augen, als wir mit dem Wagen in den Aufzug gingen, hob ein letztes Mal die Hand zum Gruß und schloss die Tür hinter sich, als die Aufzugtüren zuglitten und wir abwärts fuhren.
Die kleine Szene zwischen ihnen, deren Zeuge ich geworden war, erwähnte ich nie, mit keinem Wort. In der Art, sich ihm unterzuordnen, war sie ein zehn Jahre altes Mädchen gewesen, das sah ich, in der Art, dagegen anzukämpfen, eine erwachsene Frau. Aber allein schon, dass sie dagegen ankämpfen musste, disqualifizierte in gewisser Weise das Erwachsene; kein erwachsener Mensch gerät in Situationen wie diese, oder? Ihm kamen solche Gedanken nicht, er kannte keine Grenzen, für ihn war sie bloß Tochter, eine Art altersloses Geschöpf.
Und ziemlich genau, wie sie es vorhergesehen hatte, begann er danach, uns zu den unmöglichsten Tageszeiten und in den unmöglichsten Gemütszuständen anzurufen, weshalb Linda mit ihm verabredete, dass er immer zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Wochentag anrufen sollte. Das schien ihn zu erfreuen. Aber es war auch eine Verpflichtung, gingen wir dann nicht ans Telefon, verletzte ihn das womöglich maßlos, so dass er die Absprache als nichtig betrachten und es ihm wieder freistehen würde, uns anzurufen, wann immer es ihm passte, oder auch gar nicht mehr anzurufen. Ich unterhielt mich fünf, sechs Mal mit ihm. Einmal fragte er mich, ob er mir ein Lied vorsingen dürfe. Er habe es selbst geschrieben, und es sei auf Stockholmer Bühnen und im Rundfunk gesungen worden, erläuterte er. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Aber warum sollte er es mir nicht vorsingen
dürfen. Er legte los, hatte eine kräftige Stimme, legte sich ins Zeug, und auch wenn er nicht jeden Ton sauber traf, war sein Vortrag dennoch beeindruckend. Das Lied hatte vier Strophen und handelte von einem Arbeiter, der oben im Norden eine Straße baute. Als er fertig war, fiel mir nur ein zu sagen, dass es ein schönes Lied gewesen sei. Vermutlich hatte er mehr erwartet, denn er verstummte sekundenlang. Dann sagte er:
»Ich weiß, dass du Bücher schreibst, Karl Ove. Ich habe sie noch nicht gelesen, aber ich habe viel Gutes über sie gehört. Und eins sollst du wissen. Ich bin ungeheuer stolz auf dich, Karl Ove. Ja, das bin ich…«
»Es freut mich, das zu hören«, sagte ich.
»Geht es Linda und dir gut?«
»Oh ja.«
»Du bist nett zu ihr?«
»Ja.«
»Das ist gut. Du darfst sie nie verlassen. Niemals. Verstehst du?«
»Ja.«
»Du musst dich um sie kümmern. Du musst nett zu ihr sein, Karl Ove.«
Dann weinte er.
»Uns geht es gut«, sagte ich. »Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«
»Ich bin nur ein alter Mann«, erwiderte er. »Aber ich habe viel erlebt, verstehst du. Ich habe mehr erlebt als die meisten. Heute ist mein Leben nicht besonders interessant. Aber ich habe meine Tage gezählt, wusstest du das?«
»Ja, als wir dich besucht haben, hast du uns gezeigt, wie du es ausgerechnet hast.«
»Ach ja, ja. Aber Berit bist du nicht begegnet?«
»Nein.
»Sie ist so gut zu mir.«
»Das weiß ich«, sagte ich.
Da wurde er plötzlich wachsam.
»Das weißt du? Woher denn?«
»Ach, Linda hat mir ein bisschen von ihr erzählt. Und Ingrid. Du weißt…«
»Na schön. Ich werde dich nicht weiter belästigen, Karl Ove, du hast sicher Wichtigeres zu tun.«
»Aber nein«, sagte ich. »Du belästigst mich doch nicht.«
»Richte Linda aus, dass ich angerufen habe. Mach’s gut.«
Er legte auf, bevor ich mich von ihm verabschieden konnte. Auf dem Display sah ich, dass der gesamte Anruf nicht länger als acht
Weitere Kostenlose Bücher