Lieben: Roman (German Edition)
dennoch leise jubelnden System. Außer Haus gab es dagegen nichts, woran wir uns halten konnten. Am dritten Tag nahmen wir sie das erste Mal mit, weil sie untersucht werden sollte, und es kam uns vor, als würden wir eine Bombe transportieren. Das erste Hindernis waren die vielen Kleidungsstücke, die wir ihr anziehen mussten, denn draußen war es mehr als minus fünfzehn Grad kalt. Das zweite Hindernis war der Kindersitz, wie sollte man diesen wohl im Taxi befestigen?
Das dritte Hindernis waren die Augen, die uns im Wartezimmer musterten. Aber es lief gut, wir schafften es, wenn auch mit unendlich viel Krempel, und es war die Mühe wert, als sie für ein paar Minuten friedlich und langsam mit den Beinen strampelnd auf dem Wickeltisch lag, während sie untersucht wurde. Sie war gesund und munter und unwiderstehlich gut gelaunt, denn plötzlich lächelte sie die Schwester an, die über sie gebeugt stand. Das war ein Lächeln, sagte die Schwester. Das war kein Bauchkneifen. Es ist selten, dass sie so früh lächeln! Wir fühlten uns geschmeichelt, das sagte etwas über uns als Eltern, erst Monate später begriff ich, dass diese Bemerkung, es ist selten, dass sie so früh lächeln, bestimmt allen gegenüber geäußert wurde, um genau diese Wirkung zu erzielen. Aber, oh, das tiefe, fast in sich gekehrte Januarlicht, das durchs Fenster auf unser Mädchen auf dem Tisch fiel, an das wir uns nicht einmal ansatzweise gewöhnt hatten, das Eis, das in der strengen Kälte draußen glitzerte, Lindas vollkommen offenes und entspanntes Gesicht, machten dies zu einem der wenigen Erinnerungsbilder, die nicht den leisesten Hauch von Ambivalenz enthielten. Die Stimmung hielt an, bis wir in den Flur kamen und gehen wollten und Vanja anfing zu schreien wie am Spieß. Was sollten wir tun? Sie herausheben? Ja, das mussten wir. Sollte Linda sie stillen? Wenn ja, wie? Sie hatte so viel an, dass sie aussah wie ein Ballon. Sollten wir sie wieder ausziehen? Während sie schrie? Machte man das so? Und wenn sie sich dadurch nicht beruhigen ließ?
Gott, wie sie schrie, während Linda auf ihre nervöse und unentschlossene Art an den Kleidern herumnestelte.
»Lass mich mal«, sagte ich.
Ihre Augen blitzten auf, als sie meinen begegneten.
Vanja wurde für ein paar Sekunden still, als ihre Lippen sich um die Brustwarze schlossen, aber dann riss sie den Kopf zurück und schrie weiter.
»Das war es nicht«, sagte Linda. »Was ist es dann? Ob sie krank ist?«
»Nein, bestimmt nicht. Sie ist doch gerade erst von einem Arzt untersucht worden.«
Vanja schrie und schrie. Ihr kleines Gesicht war völlig verzerrt.
»Was sollen wir nur tun?«, sagte Linda verzweifelt.
»Halt sie ein bisschen im Arm, dann sehen wir weiter«, sagte ich.
Das zweite Paar, das nach uns an der Reihe gewesen war, kam mit seinem Kind im Kindersitz heraus. Als sie vorbeigingen, vermieden sie es sorgsam, uns anzusehen.
»Wir können hier nicht stehen bleiben«, sagte ich. »Wir gehen. Jetzt komm schon. Dann schreit sie eben.«
»Hast du ein Taxi gerufen?«
»Nein.«
»Aber dann tu das doch!«
Sie schaute auf Vanja hinab, die sie an sich presste, ohne dass dies geholfen hätte, denn der Kontakt zwischen ihrem Overall und Lindas Daunenjacke wirkte nicht sonderlich beruhigend. Ich zog das Handy heraus und wählte die Nummer der Taxizentrale, nahm mit der anderen Hand den Kindersitz und ging auf die Treppe am Ende des Korridors zu.
»Warte mal kurz«, sagte Linda. »Ich muss ihr noch die Mütze aufziehen.«
Während wir auf das Taxi warteten, schrie sie die ganze Zeit. Zum Glück kam es nur ein paar Minuten später. Ich öffnete die Tür zur Rückbank, stellte den Kindersitz hinein und wollte ihn mit dem Sicherheitsgurt befestigen, was mir eine Stunde zuvor problemlos gelungen war, nun aber plötzlich völlig unmöglich zu sein schien. Ich versuchte, ihn auf alle möglichen Arten durch und über und unter den verdammten Sitz zu legen, aber es passte nie. Währenddessen schrie
Vanja, und Linda starrte mich feindselig an. Schließlich stieg der Fahrer aus, um mir zu helfen. Ich weigerte mich zunächst, ihm Platz zu machen, würde das verdammt nochmal selbst hinbekommen, aber nach einer weiteren Minute des Herumfummelns musste ich nachgeben und ließ ihn, einen irakisch aussehenden Mann mit Bart, den Sitz in zwei Sekunden befestigen.
Auf der ganzen Wegstrecke durch ein verschneites und sonnenglitzerndes Stockholm schrie sie. Erst als wir in unsere Wohnung kamen und sie
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