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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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zusammen mit Linda ausgezogen auf dem Bett lag, versiegten ihre Tränen.
    Wir waren beide schweißgebadet.
    »Was für ein kleines Persönchen!«, sagte Linda, als sie vom Bett und einer schlafenden Vanja aufstand.
    »Ja«, sagte ich. »Jedenfalls ist Leben in ihr.«
    Später an diesem Tag hörte ich Linda ihrer Mutter von der Untersuchung erzählen. Kein Wort darüber, dass sie so geschrien hatte, oder über die Panik, in die wir geraten waren, nein, stattdessen erzählte sie, dass Vanja gelächelt hatte, als sie auf dem Wickeltisch lag und untersucht wurde. Wie glücklich und stolz Linda war! Vanja hatte gelächelt, sie war gesund und munter, und das Licht der tiefstehenden Sonne, gewissermaßen emporgehoben von den schneebedeckten Flächen, machte alles im Raum weich und schimmernd, auch Vanja, die nackt auf der Unterlage lag und strampelte.
    Darüber, was hinterher geschah, breitete sie den Mantel des Schweigens.
    Jetzt, da wir ziemlich genau ein Jahr später im Wind standen und auf die Fähre warteten, wirkte die ganze Szene eigenartig. Wie war es nur möglich, so unwissend zu sein? Aber so war es gewesen, ich erinnerte mich noch gut an die Gefühle, die mich damals übermannten, dass alles so zerbrechlich war, auch die Freude, die von allem ausging. Nichts in meinem
Leben hatte mich darauf vorbereitet, einen Säugling zu haben, ich hatte vorher praktisch nie einen gesehen, und für Linda galt das Gleiche, als Erwachsene hatte sie kein einziges Kind in ihrer Nähe gehabt. Alles war neu, alles musste nach und nach erlernt werden, auch, was an Fehlern dazugehörte, die jeder einmal machen musste. Relativ schnell begann ich, die verschiedenen Punkte als Herausforderungen zu betrachten, so als nähme ich an einer Art Wettstreit teil, bei dem es darum ging, möglichst viele Dinge gleichzeitig zu schaffen, und so hatte ich weitergemacht, als ich tagsüber die Verantwortung für die Kleine übernahm, bis es keine neuen Punkte mehr gab, das kleine Feld war erobert worden, und übrig blieb allein Routine.
    Vor uns wurde der Motor der Fähre auf Umkehrschub gestellt, während sie langsam die letzten Meter Richtung Kai glitt. Der Fahrkartenverkäufer öffnete das Tor, und wir, offenbar die einzigen Fahrgäste, fuhren den Kinderwagen an Bord. Blasen graugrünen Wassers stiegen rund um die Schiffsschrauben an die Oberfläche. Linda zog das Portemonnaie aus der Innentasche ihrer blauen Jacke und bezahlte. Ich schloss die Hände um das Geländer und schaute zur Stadt hinüber. Der weiße Vorsprung, der das Königliche Dramatische Theater darstellte, der kleine Höhenzug, der die Birger Jarlsgatan vom Sveavägen trennte, wo unsere Wohnung lag. Die riesige Baumasse, die fast alle Räume der Landschaft ausfüllte. Wie ein anderer Blickwinkel, der nicht wusste, wozu Häuser und Straßen gebraucht wurden, sie nur als Formen und Masse betrachtete, so, wie beispielsweise die zahllosen Tauben die Stadt sehen mussten, über der sie flogen und in der sie landeten, wie ihr Blick alles auf einen Schlag fremd erscheinen ließ. Ein gigantisches Labyrinth aus Gängen und Hohlräumen, manche unter freiem Himmel, andere eingeschlossen, wieder andere unter der Erde, in schmalen Tunneln, durch die larvenhaft Züge jagten.
    Etwas über eine Million Menschen lebten hier ihr Leben.
    »Mama meinte, sie könnte montags auf Vanja aufpassen, wenn du möchtest. Dann hast du den Tag für dich.«
    »Natürlich will ich das«, sagte ich.
    »So klar ist das nun auch wieder nicht«, erwiderte sie.
    Ich verdrehte innerlich die Augen.
    »Dann könnten wir bei ihr übernachten«, fuhr sie fort, »und Montag früh zusammen in die Stadt fahren. Also, nur wenn du willst. Dann kommt Mama am Nachmittag mit Vanja.«
    »Der Plan gefällt mir«, sagte ich.
    Als die Fähre auf der anderen Seite anlegte, gingen wir die Straße am Vergnügungspark entlang, die im Sommerhalbjahr stets voller Menschen war, die entweder in den Schlangen vor den Kartenschaltern oder Würstchenbuden standen, in einem der Imbisse auf der anderen Seite essen wollten oder nur spazieren gingen. Dann war der Asphalt von Eintrittskarten und Flyern, Eis- und Würstchenpapier, Servietten und Strohhalmen, Cola-Bechern und Saftpäckchen und allem anderen übersät, was Menschen, die sich amüsierten, so fortwarfen. Nun lag die Straße still und leer und sauber vor uns. Kein Mensch war zu sehen, weder in den Restaurants auf der einen Seite noch im Vergnügungspark auf der anderen. Auf einer kleinen

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