Lieben: Roman (German Edition)
Ohr. Sie lachte. Im selben Moment wurde die Tafel über uns eingeschaltet. Gnesta, Gleis zwei, in drei Minuten.
»Sieht nicht so aus, als würde sie einschlafen«, sagte ich.
»Nein«, erwiderte Linda. »Dafür ist es ein bisschen zu früh.« Still sitzen zu müssen und festgeschnallt zu werden, gehörte zu den Dingen, die Vanja am wenigsten mochte, es sei denn, der Kinderwagen bewegte sich. Auf den Fahrten nach Gnesta, die etwa eine Stunde dauerten, mussten wir sie deshalb kontinuierlich beschäftigen. Auf und ab im Mittelgang, zu den Fenstern und zu den Scheiben in den Türen hoch, wenn es uns nicht gelang, ihre Aufmerksamkeit mit Hilfe eines Buchs, eines Spiels oder eines Päckchens Rosinen zu ergattern, was sie bis zu einer halben Stunde beschäftigen konnte. In einem relativ leeren Zug war das alles kein Problem, es sei denn, man hatte vor, Zeitung zu lesen, wie ich es mir an diesem Tag vorgenommen hatte, der ganze dicke Stapel von gestern lag in meiner Tasche, aber in der Rushhour, in der diese Waggons überfüllt waren, konnte es unangenehm werden; ein müdes Kind, das eine Stunde lang schrie und mit dem man aus Platzmangel nirgendwohin gehen konnte, war anstrengend. Denn wir machten diese Fahrt oft. Nicht nur, weil Lindas Mutter auf Vanja aufpassen und wir ein paar Stunden für uns haben konnten, sondern auch, weil wir, jedenfalls ich, so gerne dort draußen waren. Höfe, weidende Tiere, große Wälder, kleine Kieswege, Seen, klare, frische Luft. Nachts kompakte Dunkelheit, Sternenhimmel, vollkommene Stille.
Der Zug fuhr langsam am Gleis ein, wir stiegen ein und setzten uns in die Nähe der Tür, wo Platz für den Kinderwagen
war, ich hob Vanja heraus und ließ sie, die Hände aufs Fenster gelegt, auf dem Sitz stehen und hinausschauen, während die Wagen durch den Tunnel und auf die Brücke über Slussen rollten. Das zugefrorene, schneebedeckte Wasser leuchtete weiß vor dem Gelb und Rotbraun der Häuser und vor dem schwarzen Felshang des Mariaberget, auf dem der Schnee keinen Halt gefunden hatte. Die Wolken am Himmel im Osten waren schwach golden, durch die Sonne hinter ihnen wie von innen erleuchtet. Wir fuhren in den Tunnel unter Södermalm, und als wir wieder herauskamen, wurden wir auf einer Brücke über das Wasser getragen, die zu dem Land auf der anderen Seite führte, anfangs voller Häuserblocks mit einem Vorortzentrum nach dem anderen, danach Wohnsiedlungen und Einfamilienhaussiedlungen, bis sich das Verhältnis von Bebauung und Natur umkehrte und die Orte als kleine Einheiten in großen Flächen aus Wald und Wasser auftauchten.
Weiß, grau, schwarz, vereinzelte dunkelgrüne Abschnitte, das waren die Farben der Landschaft, durch die wir nun rollten. Im letzten Sommer war ich diese Strecke täglich gefahren. In den letzten beiden Juniwochen hatten wir bei Ingrid und Vidar gewohnt, und ich war nach Stockholm gependelt, um dort zu schreiben. Es war ein perfektes Dasein gewesen. Aufstehen um sechs, eine Scheibe Brot zum Frühstück, eine Zigarette und eine Tasse Kaffee auf der Eingangstreppe vor dem Haus, wo die Sonne bereits wärmte und man über die Wiese bis zum Waldsaum blickte, dann mit dem Fahrrad zum Bahnhof, im Rucksack die Brote, mit denen mich Ingrid versorgt hatte, im Zug lesend in die Stadt, ins Büro gehen und schreiben, gegen sechs zurückfahren, durch den vom Sonnenlicht erfüllten und farbglänzenden Wald und durch die Felder zu dem kleinen Haus radeln, wo sie mich mit dem Abendessen erwarteten, eventuell mit Linda noch ein abendliches
Bad im See, draußen sitzen und ein wenig lesen, früh zu Bett gehen.
Eines Tages hatte es entlang der Gleise im Wald gebrannt. Auch das war fantastisch gewesen. Ein ganzer Hang, nur wenige Meter vom Zug entfernt, stand in Flammen. Sie leckten die Baumstämme hinauf, andere Bäume brannten lichterloh. Orange Zungen trieben über die Erde, stiegen von Unterholz und Büschen hoch, alles beleuchtet von derselben Sommersonne, die das Geschehen zusammen mit dem dünnen blauen Himmel fast durchsichtig erscheinen ließ.
Oh, das erfüllte mich, das war sublim, das war die Welt, die sich mir öffnete.
Auf dem Parkplatz neben dem Bahnhof von Gnesta stieg bei der Einfahrt des Zugs Vidar aus dem Wagen und wartete mit einem leichten Lächeln um den Mund auf uns, als wir im nächsten Moment auf ihn zugingen. Er war Anfang siebzig, hatte einen weißen Bart und weiße Haare, war ein wenig gebeugt, aber gesund und rüstig, wovon die braune Farbe seiner Haut als
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