Lieben: Roman (German Edition)
Folge von viel unter freiem Himmel verbrachter Zeit und der scharfe, intelligente, aber gleichzeitig auch ein wenig ausweichende blaue Blick zeugten. Abgesehen von dem wenigen, was Linda mir erzählt hatte, und dem, was ich auf Grund dessen vermuten konnte, was ich sah, wusste ich herzlich wenig darüber, was er in seinem Leben gemacht hatte. An einem solchen Wochenende kam er auf viele Themen zu sprechen, aber es ging nur selten um ihn. Er war in Finnland aufgewachsen, und seine Familie lebte immer noch dort, sprach aber völlig akzentfrei Schwedisch. Er war ein bestimmt auftretender, aber kein dominanter Mann, der sich gerne unterhielt. Er las viel, sowohl Zeitungen, die er tagtäglich gründlich von der ersten bis zur letzten Seite studierte, als auch Literatur, worin er sich mehr als allgemein üblich auskannte.
Dass er alt war, zeigte sich vielleicht in erster Linie an den Standpunkten, an denen er rigoros festhielt und von denen es zwar nicht viele gab, die jedoch, wie ich verstanden hatte, viel Raum einnehmen konnten. Diese Seiten seiner Persönlichkeit bekam ich jedoch nie zu spüren, nur Ingrid und Linda, die er über einen Kamm scherte, und Lindas Bruder. So verhielt es sich wohl zum einen, weil ich neu in der Familie war, zum anderen, nahm ich an, weil ich ihn gerne erzählen hörte und mich ehrlich dafür interessierte, was er zu sagen hatte. Dass wir keine Gespräche auf Augenhöhe führten, da meine Beiträge in erster Linie aus Fragen und einer endlosen Reihe von »Ja«, »aha«, »wirklich«, »mhm«, »ich verstehe«, »interessant« usw. bestanden, erschien mir nur passend, denn wir waren ja auch nicht auf Augenhöhe, immerhin war er doppelt so alt wie ich und hatte ein langes Leben hinter sich. Linda begriff das nicht richtig, oft rief sie nach mir oder kam mich in der Überzeugung holen, dass ich aus einem langweiligen Gespräch gerettet werden musste, das abzubrechen ich zu höflich war. Gelegentlich stimmte das sicher auch, aber meistens war mein Interesse echt.
»Hallo, Vidar«, sagte Linda jetzt und schob den Kinderwagen hinter das Auto.
»Hallo«, sagte er. »Schön, euch mal wieder zu sehen.«
Linda hob Vanja heraus, und ich klappte den Wagen zusammen und legte ihn in den Kofferraum, den Vidar für mich öffnete.
»Dann ist da noch der Kindersitz«, sagte ich und setzte ihn auf die Rückbank, hob Vanja hinein und schnallte sie fest.
Vidar fuhr Auto, wie viele alte Männer es tun, also leicht über das Lenkrad gebeugt, so als wären die lächerlichen zusätzlichen Zentimeter näher an der Windschutzscheibe entscheidend dafür, eine gute Sicht zu haben. Bei Tageslicht war er ein guter Fahrer, in diesem Frühjahr hatten wir beispielsweise
vier Stunden am Stück mit ihm im Wagen gesessen, als wir nach Idö hinauswollten, wo sein Sommerhaus stand, aber wenn es dunkel wurde auf den Straßen, fühlte ich mich nicht mehr so sicher. Vor wenigen Wochen erst hätten wir fast einen der Nachbarn überfahren, der auf dem Feldweg unterwegs war. Ich sah ihn schon von fern und glaubte, Vidar hätte ihn auch gesehen, aber das hatte er nicht, er nahm ihn überhaupt nicht wahr, und nur eine Kombination aus meinem Warnruf und der Geistesgegenwart des Nachbarn, der in die Büsche sprang, verhinderte ein Unglück.
Wir bogen vom Bahnhofsgelände auf die Hauptstraße, Gnestas einzige große Straße.
»Bei euch alles in Ordnung?«, sagte Vidar.
»Aber ja«, sagte ich. »Kann nicht klagen.«
»Diese Nacht war das Wetter ziemlich ungemütlich«, sagte er. »Mehrere Bäume sind umgestürzt. Der Strom ist ausgefallen. Aber das werden sie im Laufe des Vormittags sicher reparieren. Wie war es denn in der Stadt?«
»Da war es auch ein bisschen windig«, sagte ich.
Wir bogen links ab, fuhren über die kleine Brücke und gelangten auf die große Ackerfläche, auf der die weißen Heuballen weiterhin in Stapeln am Straßenrand lagen. Einen Kilometer später bogen wir erneut ab und fuhren auf einem Feldweg durch den Wald, der zum größten Teil aus Laubbäumen bestand, zwischen deren Stämmen auf der einen Seite eine seeähnliche Wiese sichtbar wurde, natürlich begrenzt von einer kahlen Felskuppe und einem Streifen Nadelbäume, die über ihr zusammenwuchsen. Eine langhornige, widerstandsfähige Rinderrasse weidete hier ganzjährig. Hundert Meter weiter führte ein grasbewachsener, abzweigender Weg zu Vidars und Ingrids Haus hinauf, während die Straße noch etwa zwei Kilometer weiterführte, bis sie auf einer Wiese
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