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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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herum, dahinter gab es darüber hinaus noch ein Feld, ehe die Tribünen aufstiegen. Das WM-Finale zwischen den Niederlanden und Argentinien, das dort 1978 ausgetragen wurde, gehörte zu meinen ersten Fernseherinnerungen. Die Unmengen weißes Konfetti, die riesige Zuschauermenge, Argentiniens hellblau und weiß gestreifte Trikots und die orangen der Niederlande vor dem grünen Rasen. Die Holländer, die ihr zweites Finale in Folge verloren. Dann zoomte ich wieder zurück, fand ein Stück weiter oben
den Fluss und folgte ihm abwärts. Schwere Industrie zu beiden Seiten, Kaianlagen mit Kränen und großen Schiffen, gekreuzt von Eisenbahn- und Straßenbrücken. Auch hier mehrere Fußballplätze. Wo er ins Zentrum floss, lagen vermutlich eher Freizeitboote. Ich wusste, dass sich dahinter das Viertel mit den vielen bunten Holzschnitzereien befand. La Boca. Unterhalb führte eine achtspurige Autobahn über den Fluss, der ich stattdessen folgte. Sie führte ein Stück am Hafen entlang. Große Kähne zu beiden Seiten. Vielleicht zehn Häuserblocks weiter lag das Stadtzentrum mit seinen Parks, Denkmälern und Prachtbauten. Ich zoomte dort heran, wo das Teatro Cervantes liegen musste, aber die Bildauflösung war zu schlecht, alles verschwamm in einem konturlosen Grün und Grau, so dass ich den Rechner herunterfuhr, in der Küche ein letztes Glas Wasser trank und mich im Schlafzimmer neben Linda ins Bett legte.
     
    Am nächsten Morgen gingen wir früh zum Hauptbahnhof, um den Nahverkehrszug nach Gnesta zu nehmen, wo Lindas Mutter wohnte. Straßen und Dächer waren von einer etwa fünf Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt. Der Himmel über uns war bleigrau, an manchen Stellen fast leuchtend. Es waren verständlicherweise nur wenige Menschen unterwegs, es war früher Sonntagmorgen. Der eine oder andere Partygänger auf dem Heimweg, der eine oder andere ältere Mensch mit Hund, und als wir uns dem Bahnhof näherten, der eine oder andere Reisende, der einen Koffer hinter sich herzog. Auf dem Bahnsteig saß ein junger Mann und schlief mit dem Kinn auf der Brust. Ein Stück hinter ihm hockte eine Krähe und pickte mit ihrem Schnabel in einem Mülleimer. Einige Bahnsteige weiter glitt ein Zug vorbei, ohne zu stoppen. Die elektronische Anzeigetafel über uns war tot. Linda ging in der weißen, halblangen Jacke am Bahnsteigrand auf und ab, die
ich ihr zu ihrem dreißigsten Geburtstag in London gekauft hatte, einer weißen Strickmütze und einem weißen Wollschal mit rosenartigen Stickereien, die ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte und die sie anscheinend nicht so richtig mochte, obwohl sie ihr gut standen. Sowohl die Farbe, in Weiß sah sie immer gut aus, als auch das Muster, das so romantisch war wie sie. Die Kälte ließ ihre Wangen rot anlaufen, ihre Augen feucht glänzen. Sie klatschte ein paar Mal in die Hände, machte ein paar schnelle Schritte auf der Stelle. Eine dicke Frau zwischen fünfzig und sechzig kam mit Rollkoffern links und rechts von sich die Rolltreppe herauf. Hinter ihr stand ein dunkel gekleidetes Mädchen von etwa sechzehn Jahren mit schwarz geschminkten Augen und schwarzen Fingerhandschuhen, schwarzer Mütze und langen, blonden Haaren. Sie stellten sich nebeneinander an die Bahnsteigkante. Mutter und Tochter mussten das sein, auch wenn die Ähnlichkeit schwer zu erkennen war.
    »Huh huh!«, sagte Vanja und zeigte auf zwei herantrippelnde Tauben. Sie hatte gerade gelernt, eine Eule nachzuahmen, die es in einem der Bücher gab, die wir ihr vorlasen, und nun war der Laut zum Ruf aller Vögel geworden.
    Sie hat so feine Gesichtszüge, dachte ich. Kleine Augen, eine kleine Nase, ein kleiner Mund. Nicht weil sie ein kleines Kind war, diese feinen Züge würde sie immer haben, das konnte man jetzt schon sehen. Nicht zuletzt, wenn man sie neben Linda sah. Die beiden ähnelten sich nicht auffallend, aber ihre Verwandtschaft war dennoch, vor allem in den Proportionen der Gesichtszüge, deutlich erkennbar. Auch Linda hatte kleine Augen und diesen kleinen Mund und die zierliche Nase. Meine Züge waren, abgesehen von der Augenfarbe und eventuell noch der mandelartigen Form des oberen Teils der Augen nicht präsent. Ab und zu legte sich jedoch ein mir bekannter Ausdruck auf ihr Gesicht, es war
Yngves, so wie er damals, in unserer Kindheit ausgesehen hatte.
    »Ja, das sind zwei Tauben«, sagte ich und ging vor ihr in die Hocke. Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich hob die eine Klappe ihrer Ledermütze an und wisperte in ihr

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