Lieben: Roman (German Edition)
absolut Unbewegliche. Die größte Hölle von allen.«
»Das hört sich furchtbar an.«
»Das war es auch. Aber eben nicht nur. Es ist immerhin fantastisch, sich so stark zu fühlen. So sicher. Irgendwie ist das
ja auch wahr. Also, dass es in mir ist. Aber du weißt schon, was ich meine.«
»Eigentlich nicht«, erwiderte ich. »Ich bin nie so weit gegangen. Ich kenne das Gefühl, glaube ich, einmal habe ich es empfunden, aber das war verdammt nochmal beim Schreiben, als ich ganz still an einem Schreibtisch saß. Das ist etwas völlig anderes.«
»Das glaube ich nicht. Ich denke, du warst manisch. Du hast nicht gegessen, nicht geschlafen, du warst so glücklich, dass du nicht wusstest, was du damit anfangen solltest. Aber du hast da trotzdem irgendwo eine Grenze, eine Sicherheit in dir selbst, und genau darum geht es, nicht über das hinauszugehen, was du wirklich, und das ist ein tief empfundenes wirklich, in dir hast. Tut man etwas, was nicht in einem steckt, hat das schwerwiegende Konsequenzen. Dafür musst du bezahlen. Das macht man nicht umsonst.«
Wir waren auf den Weg gekommen, der am Wasser entlang in den Wald hineinführte. Der Wind hatte große Teile des Eises freigefegt. An manchen Stellen war es so blank wie Glas und reflektierte den dunklen Himmel wie ein Spiegel, an anderen Stellen war es körnig und grau, fast grünlich wie gefrorener Schneematsch. Nachdem der Zug vorbeigezogen und das Warnsignal verstummt war, herrschte zwischen den Bäumen eine fast vollkommene Stille. Nur leises Rascheln und Knacken, wenn sich Äste aneinander rieben oder gegeneinander schlugen. Das Quietschen der Wagenräder, unsere eigenen trockenen Schritte.
»In der Klinik sagten sie etwas, was für mich sehr wichtig wurde«, fuhr Linda fort. »Eine simple Sache. Jedenfalls meinten sie, ich müsse versuchen, mich daran zu erinnern, dass ich mich selbst eigentlich satt hätte, wenn ich manisch war. Dass ich eigentlich ganz unten war. Und schon allein der Gedanke, dass es ein solches eigentlich gab, half mir. Darum geht
es doch im Grunde, dass man völlig aus den Augen verliert, wer man ist. Eigentlich ist. Und ich glaube, das war der vielleicht wichtigste Grund dafür, dass es so weit ging. Dass ich eigentlich nie gelebt hatte. Also nie von meinem Inneren ausgehend, immer nur vom Äußeren ausgehend gelebt hatte. Und das klappte lange gut, ich trieb es weiter und weiter, und am Ende ging es dann nicht mehr. Es war aus.«
Sie sah mich an.
»Ich glaube, ich war damals ziemlich rücksichtslos. Oder hatte etwas Rücksichtsloses in mir. Ich war irgendwie abgeschnitten von den anderen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ich glaube, das stimmt«, sagte ich. »Als ich dich das erste Mal traf, hattest du eine völlig andere Ausstrahlung als heute. Ja, rücksichtslos, das kommt hin. Anziehend und gefährlich, dachte ich damals. So denke ich heute nicht mehr über dich.«
»Mit mir ging es steil bergab. Genau in diesen Wochen passierte es doch, ging es abwärts mit mir. Ich bin unglaublich froh, dass wir damals kein Paar geworden sind! Das hätte niemals gehalten. Es wäre nicht gegangen.«
»Nein, sicher nicht. Aber ich muss schon zugeben, dass ich ein bisschen überrascht war, als ich herausfand, wie romantisch du tatsächlich bist. Und wie nahe du deine Lieben um dich haben willst. Wie wichtig das für dich ist.«
Wir gingen eine Weile schweigend weiter.
»Wärst du lieber mit mir zusammen gewesen, wie ich damals war?«
»Nein.«
Ich lächelte. Sie lächelte. Abgesehen von einem gelegentlichen Säuseln im Wald, wenn der Wind vorüberzog, war es vollkommen still. Es tat gut, dort zu gehen. Zum ersten Mal seit langem fand meine Seele ein wenig Frieden. Selbst wenn der Schnee überall lag und weiß eine leichte Farbe ist, drängte
sich einem in dem Gelände nicht das Leichte auf, denn aus dem Schnee, der so feinfühlig das Licht des Himmels reflektierte und immer leuchtete, egal, wie dunkel er war, stiegen die Baumstämme auf, und sie waren schwarz und knorrig, und über ihnen hingen die Äste, auch sie schwarz und in endlos variierten Arten ineinander gewoben. Schwarz waren die Felshänge, schwarz waren die Baumstümpfe und Windbrüche, schwarz waren die Seiten der Steine, schwarz war der Waldboden unter dem Dach der großen Fichten.
Weißes und Weiches und Schwarzes und Gähnendes, beides war vollkommen still, beides vollkommen reglos, und es war unmöglich, nicht daran zu denken, wie viel von dem, was uns umgab, tot
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