Lieben: Roman (German Edition)
war, welch kleiner Teil von allem tatsächlich lebte und welch einen großen Platz dieses Lebendige in uns einnahm. Gerade deshalb hätte ich gerne gemalt, hätte ich diese Begabung so gerne gehabt, denn nur darin ließ sich dieses Wissen ausdrücken. Stendhal schrieb, Musik sei die höchste Kunstform von allen, alle anderen Kunstformen wollten in Wahrheit Musik sein. Das war natürlich ein platonischer Gedanke, alle anderen Kunstformen bildeten etwas anderes ab, die Musik ist die einzige, die etwas in sich ist, absolut unvergleichlich. Aber ich wollte der Wirklichkeit näher sein, also der physischen, konkreten Wirklichkeit, und für mich kam als Erstes immer das Sehen, auch wenn ich schrieb und las, es lag hinter den Buchstaben, für die ich mich interessierte. Wenn ich wie jetzt einen Spaziergang machte, strahlte das, was ich sah, nichts aus. Der Schnee war Schnee, die Bäume waren Bäume. Erst wenn ich ein Bild von Schnee oder von Bäumen sah, bekamen sie Sinn. Monet hatte ein außerordentlich gutes Auge für das Licht des Schnees, genauso wie Thaulow, der technisch vielleicht begabteste norwegische Maler aller Zeiten, es war ein Fest, ihre Bilder zu sehen, ihre Präsenz im Augenblick war so groß, dass der Wert dessen, woraus sie entstand,
sich radikal erhöhte, ein alter, brüchiger Schuppen an einem Fluss oder ein Pier an einem Urlaubsort wurden plötzlich unverzichtbar, waren aufgeladen von dem Gedanken, dass sie sich zur selben Zeit wie wir hier aufhielten, in diesem intensiven Jetzt, und dass wir ihnen bald wegsterben werden, aber bei Schnee wurde irgendwie die andere Seite der Verehrung des Augenblicks sichtbar, denn seine Beseelung und sein Licht hinterließen so deutlich etwas nicht Gekennzeichnetes, nämlich die Leblosigkeit, die Leere, das Nicht-Besetzte und Neutrale, das einem als Erstes ins Auge stach, wenn man im Winter durch einen Wald ging, und in diesem Bild, der Beständigkeit und des Todes, konnte sich der Augenblick nicht behaupten. Friedrich wusste das, malte es aber nicht, nur die Vorstellung davon. Von hier aus breitete sich natürlich das Problem aller Abbildung aus, denn kein Auge ist rein, kein Blick ist leer, nichts wird so gesehen, wie es an sich ist. Und in der Begegnung damit drängte sich die Frage nach dem generellen Sinn der Kunst auf. Ja, natürlich, so sah ich den Wald hier, so wandelte ich in ihm und dachte an ihn. Aber die Bedeutung, die ich ihm abgewann, kam aus mir selbst, ich besetzte sie mit mir. Sollte er eine weitergehende Bedeutung erlangen, konnte dies nicht mit dem Blick erfasst werden, sondern durch Handlung, will sagen Benutzung. Bäume mussten gefällt, Häuser gebaut, Lagerfeuer entfacht, Tiere gejagt werden, nicht zu meinem Vergnügen, sondern weil mein Leben davon abhing. Dann würde er sinnvoll sein, ja, so sinnvoll, dass ich ihn nicht mehr sehen wollte.
Ungefähr zwanzig Meter vor uns kam ein Mann in einem roten Anorak um die Kurve. Er hielt einen Skistock in jeder Hand. Es war Arne.
»Hallo, ihr seid es!«, sagte er, als er ein, zwei Meter vor uns war.
»Hallo, Arne, lange nicht gesehen«, sagte Linda.
Er blieb neben uns stehen und warf einen Blick in den Kinderwagen. Es machte nicht unbedingt den Eindruck, als hätte der Skandal ihn gebrochen.
»Wie groß sie geworden ist«, sagte er. »Wie alt ist sie jetzt?«
»Vor zwei Wochen ist sie ein Jahr alt geworden«, sagte Linda.
»Tatsächlich! Ja, die Zeit rast«, sagte er und begegnete meinem Blick. Sein eines Auge war ganz starr und voller Tränen. In den letzten Jahren hatte er sich mit allem Möglichen herumquälen müssen, man hatte bei ihm einen Gehirntumor festgestellt, und nachdem dieser herausoperiert worden war, gelang es ihm nicht, sich vom Morphium zu trennen, so dass er eine Weile stationär entgiftet werden musste. Als das überstanden war, bekam er einen Gehirnschlag. Hatte er nicht erst kürzlich eine Lungenentzündung auskuriert?
Aber obwohl er jedes Mal wüster und verlebter aussah, wenn wir uns trafen, es ihm immer schwerer fiel zu gehen und seine Bewegungen beständig langsamer wurden, wirkte er nicht schwächer, verlor er seine Kräfte nicht oder den Lebenswillen, der stets lebendig in ihm war, er schlug sich mit all seinen Gebrechen durch, und was man zwei Jahre zuvor über ihn hätte sagen können, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, strafte er weiterhin Lügen. Der Wille, die Lust am Leben, das war es wohl, was ihn auf den Beinen hielt. Fast jeder andere, der durchgemacht
Weitere Kostenlose Bücher