Lieben: Roman (German Edition)
Music gespielt. Aber auch auf Festen daheim, nahm ich an. Genauso exhibitionistisch, wie ich selbst gewesen war, und genauso darauf bedacht, sich zu verstecken.
Auch Ingrid hatte damals ihren Auftritt gehabt. Als sie sich unter die Nachbarn mischte, alle umarmte, das Essen präsentierte, das sie mitgebracht hatte, redete und lachte, wurde sie augenblicklich zum Mittelpunkt, und alle hatten ihr etwas zu sagen. Wenn in der näheren Umgebung eine Veranstaltung stattfand, eilte sie stets zur Hilfe, backte oder kochte, und war jemand krank oder in anderer Weise hilfsbedürftig, radelte sie zu dem Betroffenen und tat, was sie konnte.
Das Fest begann, alle saßen über ihre Krebse gebeugt, die im Wasser gleich nebenan gefangen worden waren, und warfen ab und zu den Kopf nach hinten, wenn sie das hinunterkippten, was die Schweden »Nubbe« nannten, also einen Schnaps. Die Stimmung war gut. Dann schallten plötzlich Stimmen von der Scheune zu uns herüber, ein Mann beschimpfte eine Frau, die Stimmung am Tisch veränderte sich, manche sahen hin, andere versuchten, nicht hinzusehen, aber alle wussten Bescheid. Es war der Sohn des alten Mannes, dem der Haupthof gehörte, er war für seinen Jähzorn bekannt, und jetzt hielt er seiner jugendlichen Tochter eine Standpauke, weil sie geraucht hatte. Daraufhin stand Ingrid brüsk auf und ging mit schnellen, entschlossenen Schritten zu ihm, wobei alles an ihr vor unterdrückter Wut vibrierte. Sie blieb vor dem Mann stehen, der Mitte dreißig, groß und kräftig war und harte Augen hatte, und fing an, ihm mit einer solchen Vehemenz die Leviten zu lesen, dass er ganz klein wurde. Als sie fertig war und er in seinem Auto wegfuhr, legte sie die Hand auf die Schulter der Tochter, die weinend danebengestanden hatte, und nahm sie mit zum Tisch. Als sie sich setzte, fand sie im selben Moment in die alte Stimmung zurück, redete und lachte und riss die Leute mit.
Jetzt war alles weiß und still.
Unterhalb des Hofs führte der Weg zu einer Ferienhaussiedlung hinauf. Er war nicht geräumt worden, denn um diese Jahreszeit hielt sich dort niemand auf.
Während meiner Arbeit an Alles hat seine Zeit hatte ich Ingrid vor Augen gehabt, als ich von Anna erzählte, Noahs Schwester. Eine Frau, die stärker war als alle anderen, eine Frau, die bei Einsetzen der Flut ihre ganze Familie in die Berge hinaufführte, und als die Flut auch dorthin gelangte, sie immer höher hinauf leitete, bis sie nicht mehr weiterkamen und alle Hoffnung verloren war. Eine Frau, die niemals aufgab und bereit war, für ihre Kinder und Enkelkinder alles zu opfern.
Sie war ein bemerkenswerter Mensch. Wo sie hinkam, stand sie im Mittelpunkt, gleichzeitig war sie demütig. Sie mochte oberflächlich wirken, aber gleichzeitig gab es eine Tiefe in ihren Augen, die diesem Eindruck widersprach. Sie versuchte, Distanz zu uns zu halten, zog sich immer zurück, war immer bedacht, uns nicht in die Quere zu kommen, aber gleichzeitig war sie der Mensch, der uns am nächsten stand.
»Meinst du, Fredrik und Karin hat es gestern Abend gefallen?« , sagte Linda und sah zu mir hoch.
»Doch, ich denke schon, meinst du nicht?«, sagte ich. »Es war nett.«
In der Ferne erhob sich ein Rauschen.
»Auch wenn er mich ein bisschen zu oft Hamsun genannt hat«, fuhr ich fort.
»Er hat doch nur Spaß gemacht!«
»Das ist mir schon klar.«
»Sie mögen dich sehr, beide.«
»Das verstehe ich wiederum nicht. Ich sage doch kaum etwas, wenn wir mit ihnen zusammen sind.«
»Natürlich sagst du was. Außerdem bist du so aufmerksam, dass es nicht so wirkt.«
»Aha.«
Manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Lindas Freunden gegenüber so stumm und unengagiert war, weil
ich mich nicht mehr für sie interessierte, sondern mich darauf beschränkte, aus Pflichtgefühl anwesend zu sein, wenn sie bei uns waren. Für mich war es eine Pflicht, für Linda war es dagegen ihr Leben, an dem ich folglich nicht teilnahm. Sie hatte sich nie darüber beschwert, aber ich ahnte, dass sie sich wünschte, es wäre anders.
Das Rauschen wurde lauter. Am Bahnübergang ertönte das Warnsignal. Ding ding ding ding . Dann sah ich flüchtig eine Bewegung zwischen den Bäumen. Im nächsten Augenblick schoss der Zug aus dem Wald. Der Schnee umgab ihn wie eine Wolke. Er fuhr ein paar hundert Meter am Wasser entlang, eine lange Reihe von Güterwaggons mit Containern in verschiedenen Farben, die in all dem Weiß und Grau leuchteten, und verschwand hinter den Bäumen im
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