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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Wald auf der anderen Seite.
    »Das hätte Vanja sehen sollen!«, sagte ich. Aber sie schlief und merkte nichts. Ihr Gesicht war fast vollständig in die henkerkuttenähnliche Untermütze gepackt, die wie ein Kragen um den Hals lief, und in die rote Polyestermütze mit weißem Futter und soliden Ohrenklappen, die darüber gespannt war. Darüber hinaus hatte sie einen Schal und einen dicken, roten Overall mit Wollpullover und Wollhose darunter an.
    »Fredrik war so lieb, als ich damals krank war«, sagte Linda. »Er ist oft auf die Station gekommen und hat mich abgeholt. Dann sind wir ins Kino gegangen. Wir haben nicht viel geredet. Aber es hat mir enorm geholfen, einfach mal rauszukommen. Und dass er sich so um mich gekümmert hat.«
    »Haben das nicht alle deine Freunde getan?«
    »Ja, jeder auf seine Art. Und das hatte etwas … Ich glaube, ich habe dadurch begriffen, dass ich immer auf der anderen Seite gestanden habe, immer die gewesen bin, die geholfen hat, die verstanden hat, die gegeben hat … Nicht bedingungslos natürlich, aber im Großen und Ganzen. Meinem Bruder,
als wir aufwuchsen, meinem Vater, und manchmal auch meiner Mutter. Und dann wurde das alles auf den Kopf gestellt; als ich krank wurde, war ich es, die annahm, die annehmen musste. Das Seltsame ist… Ja, die einzigen Augenblicke von Freiheit, die ich hatte, in denen ich meinem eigenen Willen folgte, habe ich in meinen manischen Phasen erlebt. Aber diese Freiheit war so groß, dass ich nicht mit ihr umgehen konnte. Es war schlimm. Aber es hatte auch etwas Gutes, endlich frei zu sein. Aber das ging natürlich nicht. Nicht so.«
    »Nein«, sagte ich.
    »Woran denkst du?«
    »Eigentlich an zwei Dinge. Das eine hat nichts mit dir zu tun. Aber es geht darum, was du darüber gesagt hast, dass du Hilfe annehmen musstest. Mir ist gerade klar geworden, wenn ich in deine Situation geraten wäre, hätte ich nichts angenommen. Ich hätte nicht gewollt, dass mich jemand sieht. Und auf gar keinen Fall, dass mir jemand hilft. Du ahnst nicht, wie stark das in mir verwurzelt ist. Annehmen, das ist nichts für mich. Und das wird es auch niemals sein. Das war das eine. Das andere war, dass ich mich gefragt habe, was du gemacht hast, wenn du manisch warst. Was hast du getan, als du frei warst?«
    »Aber wenn du nichts annimmst, wie soll man dann an dich herankommen?«
    »Wie kommst du darauf, dass ich andere an mich herankommen lassen möchte?«
    »Aber das geht doch nicht.«
    »Nein. Beantworte lieber meine Frage.«
    Linkerhand tauchte der Festplatz in unserem Blickfeld auf. Es war eine kleine Rasenfläche mit ein paar Bänken und einem langen Tisch an ihrem Ende, die im Grunde nur Mittsommer benutzt wurde, wenn sich alle aus der näheren Umgebung versammelten und um die hohe laubgeschmückte Stange in der
Mitte tanzten, Kuchen aßen, Kaffee tranken und beim Quiz mitmachten, dessen Preisverleihung den im Programm festgelegten Teil des Abends beendete. Ich war im vergangenen Sommer zum ersten Mal dabei gewesen und wartete intuitiv darauf, dass jemand die Stange in Brand setzen würde, es konnte doch kein Mittsommerfest ohne Feuer geben? Linda lachte, als ich ihr das sagte. Nein, kein Feuer, keine Magie, nur Kinder, die zu einem Kinderlied um den riesigen Phallos tanzten und Limonade tranken, wie man es an allen kleinen Orten in ganz Schweden an diesem Abend machte.
    Die Stange stand noch. Die Blätter waren verdorrt und braunrot, hier und da von weißen Streifen Schnee bedeckt.
    »Ich glaube, es ging gar nicht so sehr darum, was ich machte, sondern wie ich es empfand«, sagte sie. »Das Gefühl, dass alles möglich ist. Dass es keine Hindernisse gibt. Ich hätte Präsidentin der Vereinigten Staaten werden können, sagte ich einmal zu meiner Mutter, und das Schlimmste ist, dass ich es ernst meinte. Wenn ich ausging, war das gesellige Leben kein Hindernis, sondern im Gegenteil eine Arena, ein Ort, an dem ich Dinge in Gang setzen konnte, und zwar, indem ich ganz und gar ich selbst war. Alle spontanen Einfälle besaßen Gültigkeit, es gab nicht den kleinsten Funken Selbstkritik, alles ging, und der Punkt war, dass es dann auch wahr wurde . Verstehst du? Es ging wirklich alles. Aber ich war natürlich unglaublich rastlos, es passierte nie genug, es war ein Run auf immer mehr, und es musste weitergehen, es durfte niemals aufhören, denn irgendwo muss ich geahnt haben, dass es enden würde, dass der Trip, auf dem ich war, mit einem Absturz enden würde. Einem Absturz ins

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