Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
dieser Art auf, aber manchmal humpelte er dort gebeugt und mit gesenktem Kopf umher.
    In Venedig hatte ich einmal einen alten Mann gesehen, der den Kopf waagerecht trug. Sein Hals stand in einem Neunziggradwinkel von den Schultern ab. Er konnte nur den Erdboden vor seinen Füßen sehen. Unendlich langsam schlurfte er über den Platz, es war im Stadtteil Arsenale, in unmittelbarer Nähe einer Kirche, in der ein Chor probte, und ich saß dort in einem Café und rauchte, und als ich ihn erst einmal entdeckt hatte, konnte ich meine Augen nicht von ihm wenden. Es war ein Abend Anfang Dezember. Abgesehen von uns beiden und den drei Kellnern, die mit vor der Brust verschränkten Armen am Eingang standen, war kein Mensch in der Nähe. Nebel hing über den Dächern. Das Pflaster und die vielen alten, von Feuchtigkeit überzogenen Steinwände glänzten im Licht der Straßenlaternen. Er blieb vor einer Tür stehen, suchte einen Schlüssel heraus, und diesen in der Hand haltend, kippte er den ganzen Körper nach hinten, so dass er ungefähr erkennen
konnte, wo das Schloss saß. Das Schlüsselloch ertastete er mit den Fingern. Die Deformation führte dazu, dass keine seiner Körperbewegungen zu ihm zu gehören schien, oder vielmehr, die gesamte Aufmerksamkeit bündelte sich in dem regungslosen, abwärts gerichteten Kopf, der dadurch eine Art Zentrale zu sein schien, ein Teil des Körpers zwar, selber jedoch unabhängig von diesem, in der alle Entscheidungen getroffen und alle Bewegungen festgelegt wurden.
    Er öffnete die Tür und ging hinein. Von hinten sah es aus, als fehlte der Kopf. Und dann, mit einer unerwartet heftigen Bewegung, die ich nicht für möglich gehalten hätte, warf er die Tür hinter sich zu.
    Es war schrecklich, schrecklich.
    Hundert Meter vor uns fuhr ein roter Kombi. Im Luftzug hinter ihm wurde Schnee aufgewirbelt. Als er näher kam, traten wir zur Seite. Die Rückbank war ausgebaut worden, und in dem großen Kofferraum liefen zwei weiße Hunde und bellten.
    »Hast du die gesehen?«, sagte ich. »Die sahen ja aus wie Huskys. Aber das können doch eigentlich keine sein, oder?«
    Linda zuckte mit den Schultern.
    »Keine Ahnung«, sagte sie. »Aber ich glaube, das sind die Hunde, die da drüben hinter der Kurve sind. Die immer so bellen.«
    »Wenn ich da vorbeigekommen bin, habe ich nie Hunde gesehen«, sagte ich. »Aber ich weiß, dass du mal von ihnen erzählt hast. Hattest du Angst vor ihnen?«
    »Ich weiß nicht. Ein bisschen vielleicht«, sagte sie. »Es ist ein wenig unangenehm. Sie haben eine Auslaufleine, und dann kommen sie auf einen zu gerannt…«
    Als sie so depressiv war, dass sie nicht mehr alleine zurechtkam, hatte sie während längerer Phasen hier draußen gewohnt. Meistens hatte sie den ganzen Tag in der Gästehütte
gelegen und ferngesehen, kaum ein Wort mit Vidar und ihrer Mutter gewechselt, war zu nichts in der Lage gewesen, alles in ihr war zum Erliegen gekommen. Wie lange dieser Zustand angedauert hatte, wusste ich nicht genau. Sie hatte so gut wie nie darüber gesprochen. Aber ich sah es in vielen Dingen, zum Beispiel in der Fürsorglichkeit für sie, die ich in den Blicken oder Stimmen der Nachbarn spürte, denen wir hier draußen begegneten.
    Wir gingen am Haupthof des Tals vorbei, der nicht sonderlich groß war und dessen Wirtschaftsgebäude ein wenig verfallen aussahen und auf dem der uralte, verschrumpelte Patriarch wohnte. Die Fenster waren hell erleuchtet, aber im Haus war niemand zu sehen. Auf dem Hof zwischen Scheune und Haus standen drei alte Autos, eins davon aufgebockt. Sie waren schneebedeckt.
    Dass wir dort einmal gesessen haben sollten, an einem gedeckten Tisch neben dem Schwimmbecken, an einem dunklen und warmen Augustabend, um Flusskrebse zu schlemmen, war jetzt kaum zu glauben. Aber so war es gewesen. Papierlaternen, die in der Dunkelheit schimmerten, fröhliche Stimmen, ein üppiger Berg aus glänzenden roten Krebsen auf jeder Seite der langen Tafel. Bierbüchsen, Aquavitflaschen, Lachen und Gesang. Das Geräusch von Grashüpfern, fernen Autos. Ich erinnerte mich, dass Linda mich an jenem Abend überraschte, denn plötzlich schlug sie mit der Gabel an ihr Glas, erhob sich und stimmte ein Trinklied an. Zwei Mal machte sie das. Sie meinte, das werde hier von ihr erwartet, das habe sie immer schon getan. Der Typ Kind, der vor Erwachsenen auftritt, war sie gewesen. Als sie in die Grundschule ging, hatte sie über ein Jahr lang in einem Stockholmer Theater in The Sound of

Weitere Kostenlose Bücher