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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Schaffner. Ingrid zeigte ihre Karte, Linda reichte ihm ihre Streifenkarte, und ich suchte in der Tasche nach Bargeld. Als er sich mir zuwandte, sagte Ingrid:
    »Er ist in Haninge eingestiegen.«
    Wie bitte?
    Ließ sie mich schwarzfahren?
    Was zum Teufel sollte das?
    Ich begegnete dem Blick des Schaffners.
    »Nach Stockholm«, sagte ich. »Von Haninge. Wie viel macht das?«
    Ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich meine Fahrt eigentlich in Gnesta angetreten hatte, denn wie würde Ingrid dann dastehen? Andererseits bezahlte ich prinzipiell immer; bekam ich in einem Geschäft zu viel Wechselgeld herausgegeben,
wies ich die Kassiererin stets darauf hin. Schwarzfahren war das Letzte, was mir in den Sinn gekommen wäre.
    Der Zugbegleiter reichte mir Fahrkarte und Wechselgeld, ich bedankte mich, und er verschwand im Gewimmel der morgendlichen Pendler.
    Ich war außer mir vor Wut, sagte aber nichts, las weiter. Als wir in den Stockholmer Hauptbahnhof gekommen waren und ich den Kinderwagen auf den Bahnsteig gehoben hatte, bot ich ihr an, ihren Koffer ins Büro mitzunehmen, damit sie ihn nicht erst zu uns und später wieder ins Büro schleppen musste, wo sie in der Regel übernachtete, wenn sie nachmittags bei uns war. Darüber war sie erfreut. Ich verabschiedete mich in der Bahnhofshalle, nahm den Ausgang an der Flughafenbahn, ging zu dem Platz mit dem festungsartigen Sitz des Schwedischen Gewerkschaftsbunds, eilte von dort aus die Dalagatan hinauf, eine Hand um den Griff des Koffers geschlossen, den ich hinter mir herzog, die andere um die Tasche mit dem Notebook, und öffnete fünf Minuten später die Tür zu meinem Büro.
    Es war für mich bereits zu einem Ort voller Erinnerungen geworden. Die Phase, in der ich Alles hat seine Zeit geschrieben hatte, strömte darin von allen Seiten auf mich ein. Verdammt, was war ich damals glücklich gewesen.
    Ich schaffte für Ingrids Koffer Platz im Schrank unter der Spüle, da ich ihn beim Arbeiten nicht im Blickfeld haben wollte, und ging danach zum Pinkeln auf die Toilette.
    Und was stach mir dort ins Auge, waren das etwa Ingrids Shampoo und Haarbalsam? Und was lag auf dem Boden der Mülltüte, waren das etwa Ingrids Q-Tips und Zahnseide?
    Was zum TEUFEL!, sagte ich laut, packte die beiden Flaschen und warf sie in der Küche in den Abfall, jetzt ist es aber GENUG, rief ich, riss die Tüte aus dem Papierkorb im Bad, beugte mich vor und pickte den kleinen Kranz aus Haaren
aus dem Abfluss, das waren ihre Haare, und zum Teufel, das war mein Büro, der einzige Ort, den ich für mich hatte, an dem ich ganz allein war, und selbst dorthin kam sie mit ihren Sachen und dem ganzen Sack und Pack, selbst dort war ich nicht mehr sicher vor ihr, dachte ich, knallte die Haare mit Wucht in die Tüte, knüllte sie zusammen und stopfte sie tief, ganz tief in den Mülleimer im Schrank unter der Arbeitsfläche in der Küche.
    Verdammt noch mal.
    Dann schaltete ich das Notebook ein und setzte mich an den Schreibtisch. Ungeduldig wartete ich darauf, dass es sich hochgefahren hatte. In den Bodendielen war der dornengekrönte Christus erkennbar. An der Wand hinter der Couch hing das Plakat mit dem Nachtbild von Blake. Über dem Schreibtisch die beiden Fotos von Thomas. An der Wand hinter mir der sezierte Wal und die fast fotografisch exakten Zeichnungen von Käfern von derselben Expedition im 18. Jahrhundert.
    Hier konnte ich nicht schreiben. Will sagen, hier konnte ich nichts Neues schreiben, aber das hatte ich in dieser Woche auch gar nicht vor. Samstagvormittag sollte ich ausgerechnet in Bærum einen Vortrag über mein »literarisches Werk« halten, und an diesem Text wollte ich in den nächsten drei Tagen arbeiten. Es war ein sinnloser Auftrag, aber ich hatte bereits vor Ewigkeiten zugesagt. Die Anfrage war an dem Tag gekommen, als mein Buch für den Literaturpreis des Nordischen Rats nominiert worden war, sie schrieben, es sei eine Tradition, dass die norwegischen Nominierten dorthin kamen und über ihr Buch oder ihr Werk sprachen, und da meine Schutzmechanismen in dem Augenblick außer Kraft gesetzt waren, sagte ich zu.
    Und jetzt saß ich hier.
    Meine Damen und Herren, Sie sind mir scheißegal, das Buch, das ich geschrieben habe, ist mir scheißegal, es ist mir
scheißegal, ob es einen Preis bekommt oder nicht, ich will nur eins, mehr schreiben. Warum ich dann hier bin? Ich ließ mir schmeicheln, ich hatte einen schwachen Moment, von denen habe ich viele, aber jetzt ist Schluss damit, mir

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