Lieben: Roman (German Edition)
nicht?«
»Na ja, was hätte ich denn sagen sollen? Hätte ich ihm die Wahrheit über dich gesagt, hätte er sie entweder nicht verstanden oder völlig verdreht. Also habe ich möglichst wenig gesagt.«
»Und was sollte das bringen?«
»Woher soll ich das wissen? Du hast ihm doch meine Nummer gegeben…«
»Ja, damit du ihm etwas sagst. Irgendetwas, das habe ich doch gesagt, es spielt keine Rolle, was da steht.«
Geir sah mich an.
»Das meinst du nicht ernst«, sagte er. »Aber, warte mal, eins habe ich schon über dich gesagt. Das vielleicht Wichtigste, denke ich.«
»Und das wäre?«
»Dass du hohe moralische Ansprüche hast. Weißt du, was dieser Idiot daraufhin meinte? ›Die hat doch jeder.‹ Kannst du dir das vorstellen? Die hat doch eben nicht jeder. Es gibt kaum jemanden, der hohe moralische Ansprüche hat oder überhaupt weiß, was das ist.«
»Für ihn hat das Wort Moral wahrscheinlich einfach eine andere Bedeutung als für dich.«
»Mag sein, aber er war eben nur auf ein bisschen Klatsch aus. Irgendwelche Anekdoten darüber, wie betrunken du damals warst oder so.«
»Ja, ja«, sagte ich. »Wir werden es morgen ja sehen. Ganz so schlimm kann es eigentlich nicht werden. Es ist immerhin Aftenposten .«
Geir schüttelte auf seiner Seite des Tisches den Kopf. Dann suchte sein Blick die Kellnerin, die auf der Stelle zu uns kam.
»Schweinebauch mit Zwiebelsauce, bitte«, sagte er. »Und ein helles Staropramen.«
»Ich nehme die Fleischbällchen«, sagte ich und hob das Bierglas ein wenig an. »Und noch ein Bier.«
»Wird gemacht, meine Herren«, sagte die Kellnerin, steckte ihren kleinen Notizblock in die Brusttasche und ging zur Küche, in die man hinter den ständig schwingenden Türen flüchtige Blicke werfen konnte.
»Was meinst du denn eigentlich mit hohen moralischen Ansprüchen?«, sagte ich.
»Nun. Du bist ein zutiefst ethisch denkender Mensch, im Fundament deines Wesens gibt es eine ethische Grundstruktur, die nicht reduzierbar ist. Du reagierst doch regelrecht körperlich auf unpassende Dinge, die Scham, die dich übermannt, ist nicht abstrakt oder begrifflich, sondern rein körperlich, und du kannst ihr auch nicht entfliehen. Du bist nicht gerade ein Spieler, aber auch kein Moralist. Du weißt, dass ich eine Vorliebe für den Viktorianismus habe, sein System mit einer frontstage, auf der alles sichtbar ist, und einer backstage, wo alles verborgen ist. Ich glaube nicht, dass einen ein solches Leben glücklicher macht, aber es ist lebendiger. Du bist durch und durch Protestant. Protestantismus, das ist das Innige, das bedeutet, eins mit sich selbst zu sein. Du könntest kein Doppelleben führen, selbst wenn du wolltest, so etwas kannst du überhaupt nicht durchziehen. Bei dir gibt es ein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen Leben und Moral. Folglich bist du ethisch unangreifbar. Die allermeisten Menschen sind Peer Gynt, sie pfuschen ein bisschen auf ihrem Lebensweg. Das tust du nicht. Alles, was du machst, machst du mit größtem Ernst und höchster Gewissenhaftigkeit. Hast du zum Beispiel in den Manuskripten, die du begutachtest, jemals eine Zeile überlesen? Ist es schon einmal vorgekommen, dass du sie nicht von der ersten bis zur letzten Seite gelesen hast?«
»Nein.«
»Nein, und das ist genau der Punkt. Du kannst nicht pfuschen. Du kannst nicht. Du bist ein Erzprotestant. Und wie ich früher schon einmal gesagt habe, bist du ein Buchhalter des
Glücks. Hast du mit etwas Erfolg, sagen wir mit etwas, wofür andere ihr Leben geben würden, hakst du es bloß ab. Du freust dich über nichts. Wenn du eins mit dir selbst bist, wie es fast immer der Fall ist, bist du viel, viel kontrollierter als ich. Und du weißt, wie gern ich meine zahlreichen Ordnungssysteme aufstelle. Du hast deine weißen Flecken, wo du die Kontrolle verlieren kannst, aber wenn du dich nicht dorthin begibst, und das tust du mittlerweile so gut wie nie, bist du völlig gnadenlos in deiner Moral. Du bist doch viel mehr als ich und andere unbekannte Menschen Versuchungen ausgesetzt. Wärst du ich, würdest du ein Doppelleben führen. Aber das kannst du nicht. Du bist dazu verurteilt, einfach zu leben. Ha ha ha! Du bist kein Peer Gynt, und ich glaube, das ist der Kern deines Wesens. Dein Ideal ist das Unschuldige, die Unschuld. Und was ist das Unschuldige? Ich bin natürlich das genaue Gegenteil. Baudelaire schreibt darüber, über Virginia, erinnerst du dich, das Bild von der reinen Unschuld, die mit der Karikatur
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