Lieben: Roman (German Edition)
sagte sie, als wir die Treppe hinaufstiegen. »Wir können uns ja wirklich, wie du vorgeschlagen hast, später noch einmal über die Sache unterhalten. Vielleicht hast du bis dahin ja herausgefunden, was passiert ist.«
Sie nahm ihre Tasche und zwei von den Tüten mit, lächelte wie immer, als sie Tschüss sagte, umarmte mich allerdings nicht.
Als sie gegangen war, kam Linda in den Flur.
»Wie ist es gelaufen? Was hat sie gesagt?«
»Sie hat gesagt, dass sie niemals getrunken hat, wenn sie mit Vanja zusammen gewesen ist. Auch heute nicht. Und dass sie keine Ahnung hat, wieso in den Flaschen im Schrank immer weniger drin ist.«
»Wenn sie Alkoholikerin ist, passt es natürlich ins Bild, alles abzustreiten.«
»Mag sein«, sagte ich. »Aber was sollen wir jetzt tun? Sie sagt einfach nein, das habe ich nicht getan. Ich sage, doch, und ob du das getan hast, und sie sagt, nein, nein, das habe ich nicht. Ich kann es ja nicht beweisen. Wir haben ja schließlich keine Überwachungskamera in unserer Küche.«
»Solange wir Bescheid wissen, spielt das keine Rolle. Wenn sie dieses Spielchen spielen will, muss sie mit den Konsequenzen leben.«
»Die da wären?«
»Na ja, dass wir sie mit Vanja nicht mehr alleine lassen können.«
»Zum Teufel auch«, sagte ich. »Was für eine Scheiße. Da muss ich mit meiner Schwiegermutter durch die Straßen laufen und behaupten, dass sie trinkt. Was ist denn das?«
»Ich bin froh, dass du es getan hast. Am Ende wird sie es bestimmt zugeben.«
»Das glaube ich nicht.«
Wie schnell ein Leben doch neue Wurzeln schlägt. Wie kurz die Zeit von dem Moment ist, in dem man irgendwo als Fremder lebt, bis dahin, dass der Ort einen aufgesogen hat. Drei Jahre zuvor hatte ich in Bergen gewohnt und gelebt, damals wusste ich nichts über Stockholm, kannte keinen Menschen in Stockholm. Dann zog ich nach Stockholm, ins Unbekannte, bevölkert von Fremden, und schrittweise, Tag für Tag, jedoch völlig unmerklich, begann ich, mein Leben mit ihrem zu verflechten, bis es untrennbar damit verbunden war. Wäre ich nach London gegangen, was durchaus eine Möglichkeit gewesen wäre, dann wäre dort, nur mit anderen Menschen, das Gleiche passiert. Wie zufällig das war und wie schicksalhaft.
Ingrid rief Linda am nächsten Tag an und gab alles zu. Außerdem sagte sie, dass sie die Sache nicht so gravierend finde, aber da wir das anders sähen, würde sie die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit sie für keinen mehr ein Problem darstellte. Sie hatte bereits einen Termin mit einem Suchttherapeuten vereinbart und beschlossen, mehr Zeit sich selbst und ihren eigenen Bedürfnissen zu widmen, da sie glaubte, dass ein Teil des Problems dort lag, in den hohen Ansprüchen, die sie an sich stellte.
Nach dem Gespräch war Linda mutlos, denn sie meinte, ihre Mutter sei so optimistisch und voller Tatendrang gewesen, dass man nicht richtig an sie herankomme, sie scheine den Boden unter den Füßen verloren zu haben und in einer Art leichten und unbekümmerten Zukunftswelt zu leben.
»Ich kann nicht mit ihr reden! Ich bekomme keinen wirklichen Kontakt zu ihr. Das sind nur Floskeln und Worte und wie fantastisch dieses und jenes ist. Dafür, wie du aufgetreten
bist, findet sie zum Beispiel nur lobende Worte. Ich bin fantastisch, und alles ist ganz toll. Aber das erklärt sie einen einzigen Tag, nachdem wir ihr mitgeteilt haben, dass wir etwas dagegen haben, wenn sie Alkohol trinkt, solange sie auf Vanja aufpasst. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie, Karl Ove. Es kommt mir vor, als würde sie leiden, ohne selber zu wissen, dass sie es tut, verstehst du? Sie verdrängt einfach alles. Sie hat einen guten Lebensabend verdient. Sie soll nicht gequält sein und leiden und trinken müssen, um sich zu betäuben. Aber was kann ich schon tun? Sie will ja keine Hilfe annehmen. Sie will nicht einmal zugeben, dass es in ihrem Leben Probleme gibt.«
»Aber du bist eben auch ihre Tochter«, erwiderte ich. »Natürlich will sie nicht, dass du ihr hilfst. Oder zugeben, dass etwas nicht so ist, wie es sein soll. Ihr ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, anderen zu helfen. Dir, deinem Bruder, eurem Vater, ihren Nachbarn. Würdet ihr Ingrid helfen, würde doch alles zusammenbrechen.«
»Da hast du sicher Recht. Aber ich will nur Kontakt zu ihr haben, verstehst du?«
»Natürlich.«
Fünf Tage später bekam ich eine Mail mit meinem Interview für Aftenposten . Die Lektüre machte mich einfach nur traurig. Es war
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