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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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solange du auf Vanja aufpasst. An dem Punkt muss ich Grenzen setzen. Das geht einfach nicht. Verstehst du?«
    »Nein«, sagte sie erstaunt. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Ich habe nie etwas getrunken, wenn ich auf Vanja aufgepasst habe. Nie. Und das käme mir auch niemals in den Sinn. Wie kommst du nur darauf?«
    Mir schwindelte. Wie immer in Situationen, in denen viel auf dem Spiel stand, aufreibenden Situationen, in denen ich weiter ging oder gezwungen war, weiter zu gehen, als ich eigentlich wollte, sah ich alles um mich herum, auch mich selbst, mit einer ganz eigenen, fast hyperrealen Klarheit. Das grüne Blechdach des Kirchturms vor uns, die schwarzen, unbelaubten Bäume auf dem Friedhof, an dem wir entlanggingen, das Auto, das leuchtend blau auf der anderen Seite die Straße hinauffuhr. Meinen eigenen, leicht gebeugten Gang,
Ingrids energischere Schritte neben mir. Wie sie zu mir hochsah. Erstaunt, mit dem leichten, fast unmerklichen Schatten eines vorwurfsvollen Gesichtsausdrucks.
    »Mir ist aufgefallen, dass in den Schnapsflaschen immer weniger drin gewesen ist, und um der Sache auf den Grund zu gehen, habe ich die Flaschen gestern Abend markiert. Als ich nach Hause gekommen bin, habe ich gesehen, dass jemand aus ihnen getrunken hat. Ich bin es nicht gewesen. Linda und du sind die einzigen gewesen, die außer mir heute in der Wohnung waren. Ich weiß, dass Linda nicht aus den Flaschen getrunken hat. Das bedeutet, du musst es gewesen sein. Es gibt keine andere Erklärung.«
    »Die muss es aber geben«, entgegnete sie. »Ich bin es nämlich nicht gewesen. Es tut mir furchtbar leid, Karl Ove, aber ich habe nichts von deinem Schnaps getrunken.«
    »Hör zu«, sagte ich. »Du bist meine Schwiegermutter. Ich will für dich nur das Beste. Ich will das hier nicht. Überhaupt nicht. Dich zu beschuldigen, ist das Letzte, was ich will. Aber was soll ich denn tun, wenn ich doch weiß , was los ist?«
    »Aber das kannst du doch gar nicht wissen«, sagte sie. »Ich habe es ja nicht getan.«
    Ich hatte Bauchschmerzen. Ich wanderte durch eine Art Hölle.
    »Begreif doch, Ingrid«, sagte ich. »Egal, was du sagst, die Sache hat Konsequenzen. Du bist eine fantastische Großmutter. Du tust mehr für Vanja und bedeutest Vanja mehr als jeder andere. Darüber bin ich unheimlich froh. Und ich will, dass es auch in Zukunft so bleibt. Wie du weißt, haben wir nicht viel Kontakt zu anderen Menschen. Aber wenn du das jetzt nicht zugibst, können wir uns nicht mehr auf dich verlassen. Verstehst du? Ich meine damit nicht, dass du Vanja nicht mehr sehen darfst. Das kannst du natürlich weiterhin, ganz gleich, was passiert. Aber wenn du das nicht zugibst
und mir nicht versprichst, dass es nie wieder vorkommen wird, wirst du nicht mehr mit ihr alleine bleiben dürfen. Dann darfst du nie alleine mit ihr sein. Verstehst du, was ich sage?«
    »Ja, allerdings. Das ist sehr bedauerlich. Aber dann geht es wohl nicht anders. Ich kann jedenfalls nichts zugeben, was ich nicht getan habe. Obwohl ich große Lust dazu hätte. Aber das kann ich nicht.«
    »Okay«, sagte ich. »So kommen wir nicht weiter. Ich schlage vor, dass wir die Sache eine Weile auf sich beruhen lassen, dann können wir noch einmal darüber sprechen und uns überlegen, wie es weitergehen soll.«
    »Das können wir gerne tun«, erwiderte sie. »Aber weißt du was, es wird sich nicht das Geringste verändern.«
    »Ja«, sagte ich.
    Wir gingen die Treppe vor der französischen Schule hinunter und folgten der Döbelnsgatan zum Johannesplan hinauf, gingen weiter die Malmskillnadsgatan entlang und die David Bagares gata hinunter und schwiegen auf dem ganzen Weg. Ich machte große Schritte mit gesenktem Kopf, sie ging fast im Laufschritt neben mir. So sollte das nicht sein, sie war meine Schwiegermutter, es gab außer diesem einen Punkt keinen anderen Grund für mich, sie zu korrigieren oder zu bestrafen. Ich empfand die Situation als unwürdig. Und als noch unwürdiger, wenn sie alles abstritt.
    Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und schlug die Tür für sie auf. Sie lächelte und trat ein.
    Wie konnte sie es nur so ruhig aufnehmen und so selbstsicher reagieren?
    War es etwa doch Linda gewesen?
    Nein, verdammt.
    Oder irrte ich mich? Hatte ich die Flaschen falsch markiert?
    Nein.
    Oder?
    Auf dem Platz stand die weißgekleidete Friseuse und rauchte. Ich grüßte sie, sie lächelte mir zu. Ingrid blieb vor der Haustür stehen, ich schloss sie auf.
    »Dann gehe ich jetzt«,

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