Lieben: Roman (German Edition)
hoffnungslos. Ich konnte keinem anderen die Schuld geben als mir selbst, trotzdem schrieb ich dem Journalisten eine lange Antwort, in der ich versuchte, meine Standpunkte zu vertiefen, das heißt, ich versuchte, ihnen einen Hauch von dem Ernst zu verleihen, den sie in meinen Gedanken hatten, was natürlich nur zur Folge hatte, dass ich noch schlechter aus der Sache herauskam. Der Journalist rief mich umgehend an, schlug vor, meine Mail als Beilage zum Interview auf die Homepage zu stellen, was ich jedoch ablehnte, denn darum
ging es nicht. Ich konnte nichts anderes tun, als am Erscheinungstag die Zeitung nicht zu kaufen und nicht mehr daran zu denken, wie dumm ich wirkte. Denn wenn ich dumm war, musste ich damit leben. Zu den Porträtinterviews gehörten Fotos aus dem Leben des Porträtierten, und da ich selber keine besaß, hatte ich meine Mutter gebeten, mir einige zu schicken. Als sie innerhalb der Zeitfrist, die man mir zugestanden hatte, nicht eintrafen, und der Journalist nach ihnen fragte, rief ich Yngve an, der ein paar Aufnahmen aus seinem Besitz einscannte und der Zeitung zumailte, während Mutters Bilder eine Woche später mit der Post kamen und sorgsam auf dickes Papier geklebt und mit detaillierten Bildunterschriften in ihrer Handschrift versehen waren. Ich begriff, wie stolz sie war, und die Verzweiflung stieg wie eine Wand in mir hoch. Am liebsten hätte ich mich irgendwo in die Tiefe eines Waldes zurückgezogen, mir dort eine Hütte gebaut und weit jenseits aller Benimmregeln einfach nur dagesessen und in ein Lagerfeuer gestarrt. Menschen, wer brauchte schon Menschen?
»Ein junger Südnorweger mit gelben Nikotinfingern und leicht verfärbten Zähnen«, hatte er geschrieben, diese Formulierung hatte sich mir unauslöschlich eingeprägt.
Aber ich hatte es nicht anders verdient. Hatte ich selbst nicht einmal vor vielen Jahren ein Interview mit Jan Kjærstad »Der Mann ohne Kinn« überschrieben? Und das , ohne auch nur ansatzweise zu begreifen, welch eine Beleidigung das war …
Ha ha ha!
Nein verdammt, die Sache war es nicht wert, dass ich mir Gedanken darüber machte. Ich musste von nun an zu allem Nein sagen, die letzten Monate als Hausmann mit Vanja durchhalten und im April wieder anfangen zu arbeiten. Hart, systematisch und Ausschau haltend nach dem, was Freude, Kraft, Licht spendete. Nutzen, was ich hatte, alles andere vergessen.
Im Schlafzimmer erwachte in diesem Moment Vanja. Ich hob sie heraus, drückte sie an mich und ging ein paar Minuten mit ihr umher, bis sie nicht mehr weinte und für eine kleine Mahlzeit bereit war. Ich erwärmte eine Kartoffel und ein paar Erbsen in der Mikrowelle, zerdrückte sie mit etwas Butter, suchte im Kühlschrank nach Fleisch, fand eine kleine Schale mit zwei Fischstäbchen, erwärmte auch sie, und setzte ihr das Ganze vor. Sie hatte Hunger, und da ich sie vom Wohnzimmer aus im Auge behalten konnte, ging ich dorthin, rief erneut meine Mails ab und beantwortete zwei, wobei ich für den Fall, dass sie unzufrieden klingen würde, laufend auf Geräusche von ihr lauschte.
»Hast du alles aufgegessen!«, sagte ich, als ich wieder zu ihr ging. Sie grinste zufrieden und warf ihre mit Wasser gefüllte Tasse auf den Fußboden. Ich hob sie aus dem Stühlchen, sie griff nach dem kleinen Bart an meinem Kinn und steckte einen Finger in den Mund. Ich lachte und warf sie mehrmals hoch, holte im Badezimmer eine Windel und tauschte sie gegen die alte aus, setzte Vanja auf den Boden und ging die alte in den Müll unter der Spüle werfen. Als ich zurückkam, stand sie mitten im Zimmer, wankte und ging dann auf mich zu.
»Eins! Zwei! Drei! Vier! Fünf! Sechs!«, zählte ich. »Neuer Rekord!«
Sie merkte selbst, dass etwas Außergewöhnliches passiert war, denn alles an ihr strahlte. Vielleicht war sie von dem sensationellen Gefühl erfüllt zu gehen.
Ich zog sie an und trug sie zum Kinderwagen im Fahrradkeller. Obwohl die Sonne nicht schien, war es ein heller und frühlingshafter Tag. Der Asphalt war trocken. Ich schickte Linda eine SMS über den ersten längeren Spaziergang unserer Tochter. »Fantastisch!«, antwortete sie. »Bin um halb eins zu Hause. Liebe euch!«
Ich ging in den Supermarkt in der U-Bahn-Station am
Stureplan, kaufte ein gegrilltes Hähnchen, einen Kopfsalat, ein paar Tomaten, eine Gurke, schwarze Oliven, zwei rote Zwiebeln und ein frisches Baguette, machte auf dem Rückweg einen Abstecher in die Buchhandlung Hedengren und entdeckte ein Buch über
Weitere Kostenlose Bücher