Lieben: Roman (German Edition)
sondern nur aus einer Stimme bestanden, der Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen konnte.
Was ist ein Kunstwerk, wenn nicht der Blick eines anderen Menschen? Nicht über und auch nicht unter uns, sondern auf Augenhöhe mit unserem eigenen Blick. Kunst kann nicht kollektiv erlebt werden, nichts kann das, Kunst ist das, womit man alleine ist. Man begegnet diesem Blick allein.
Bis dahin kam der Gedanke, dort stieß er gegen eine Wand. War die Fiktion wertlos, galt das auch für die Welt, denn wir sahen sie heute durch die Fiktion.
Nun konnte ich natürlich auch das relativieren. Ich konnte denken, dass es mehr um meinen mentalen Zustand, um meine persönliche Psychologie ging als den tatsächlichen Zustand der Welt. Hätte ich mit Espen oder Tore darüber gesprochen, die inzwischen meine ältesten Freunde waren und die ich kennen gelernt hatte, lange bevor ich mein erstes Buch veröffentlichte und Schriftsteller wurde, hätten sie meinen Standpunkt, jeder auf seine Art, entschieden abgelehnt. Espen war ein kritischer Mensch, gleichzeitig jedoch brennend neugierig, er hatte einen riesigen Appetit auf die Welt, und wenn er schrieb, war alle Energie nach außen gerichtet: Politik, Sport, Musik, Philosophie, Kirchengeschichte, Medizin, Biologie, Malerei, große zeitgenössische Ereignisse, große geschichtliche Prozesse, Kriege und Schlachtfelder, aber auch seine eigenen Töchter, seine eigenen Urlaube, kleine Intermezzi, denen er beigewohnt hatte: Über all das schrieb er und versuchte, es mit der ihm eigenen besonderen Leichtigkeit zu verstehen, weil ihn der Blick nach innen, die Introspektion nicht interessierte, wo die Kritik, die draußen so fruchtbar war, leicht auf die Idee kam, alles zunichte zu machen. Diese Teilhabe an der Welt liebte und ersehnte sich Espen. Als ich ihn kennen lernte, war er introvertiert und schüchtern, kapselte sich ein und war nicht sonderlich glücklich. Ich hatte den langen Weg beobachtet, den er zu dem Leben gegangen war, das er heute führte und auf dem er es tatsächlich geschafft
hatte, auf dem alles, was ihn bedrückte, verschwand. Er hatte seinen Platz gefunden, er war glücklich, und obwohl er vielem in der Welt kritisch gegenüberstand, verachtete er sie doch nicht. Tores Leichtigkeit hatte einen ganz anderen Charakter, er liebte die Gegenwart und pries sie, was möglicherweise mit seiner tief empfundenen Faszination für Popmusik und die Anatomie von Hitlisten zusammenhing, was in der einen Woche wichtig ist, wird in der nächsten von etwas anderem abgelöst, und die ganze Ästhetik der Popmusik, viel zu verkaufen, in den Medien aufzutauchen, mit seiner Show auf Tournee zu gehen, hatte er in die Literatur überführt, wofür er natürlich ordentlich Prügel bezog, was er aber dennoch mit der für ihn typischen Standhaftigkeit durchzog. Wenn er etwas hasste, dann war es der Modernismus, weil er nicht kommunikativ war, unzugänglich, abgehoben und unendlich eitel, ohne wenigstens dazu zu stehen. Aber was sollte man sagen, um einen Mann zu erschüttern, der seinerzeit die Spice Girls verehrt hatte? Um einen Mann zu erschüttern, der seinerzeit einen begeisterten Essay über die Sitcom-Serie Friends geschrieben hatte? Ich mochte die Richtung, der er sich zuwandte, den vormodernen Roman, Balzac, Flaubert, Zola, Dickens, glaubte aber nicht wie er, dass sich diese Form in unsere Zeit übertragen ließ. Folglich war das Einzige, was er an dem, was ich machte, wirklich kritisierte, die Form, die er schwach fand. Mir gefiel auch die Richtung, der Espen sich zuwandte, dem gelehrten, aber abschweifenden und überbordenden, allumfassenden Essay, der etwas Barockes hatte, mochte jedoch die Haltung nicht, die er darin einnahm, wenn er beispielsweise den Rationalismus feierte und die Romantik lächerlich machte. Jedenfalls waren Espen und Tore ganz und gar in der Welt und sahen darin nichts Verkehrtes, im Gegenteil. Das musste auch ich tun, alles im Sinne Nietzsches bejahen, denn es gab nichts anderes. Das war alles, was wir
hatten, das war alles, was es gab, warum also sollte man sich dem verweigern?
Ich holte das Handy heraus und klappte es auf. Das Foto von Heidi und Vanja leuchtete mir entgegen. Heidi, das Gesicht fast gegen das Display gepresst, ein einziges großes Lächeln, Vanja etwas zurückhaltender hinter ihr.
Es war Viertel vor elf.
Ich stand auf und ging zu den Münztelefonen, warf vierzig Kronen ein und wählte die Nummer
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