Lieben: Roman (German Edition)
waren Studenten, jünger, als ich sie mir vorgestellt hatte, sie sahen eher aus, als gingen sie noch aufs Gymnasium. Plötzlich sah ich mich selbst, einen schon
etwas älteren Typen mit Tasche und tiefliegenden Augen, der für sich saß. Vierzig, ich war fast vierzig. Wäre ich nicht fast vom Stuhl gefallen, als Hans’ Kumpel Olli einmal erzählte, dass er tatsächlich vierzig war? Das hätte ich erstens niemals gedacht, und zweitens sah ich sein Leben auf einmal in einem völlig anderen Licht, denn was wollte dieser alte Knacker eigentlich von uns?
Jetzt war ich selbst so weit gekommen.
»Karl Ove?«
Ich blickt auf. Nora Simonhjell stand lächelnd vor mir.
»Hallo, Nora! Was machst du denn hier? Arbeitest du hier?«
»Ja, klar. Ich habe gesehen, dass du kommst, und mir gedacht, dass ich dich hier finden würde. Schön, dich zu sehen!«
Ich stand auf und umarmte sie.
»Setz dich!«, sagte ich.
»Du siehst gut aus!«, meinte sie. »Jetzt erzähl mal. Wie sieht dein Leben aus?«
Ich erzählte ihr die Kurzversion. Drei Kinder, vier Jahre in Stockholm, zwei in Malmö. Alles in Ordnung. Sie, der ich zum ersten Mal bei einer Studentenfete an der Universität in Bergen begegnet war, an dem Abend, als die Hauptfachstudenten ihren Abschluss feierten, und die ich später in Volda wiedergetroffen hatte, wo sie unterrichtete und ich meinen ersten Roman schrieb, den sie als erste von allen las und kommentierte, hatte eine Weile in Oslo gewohnt, in einer Buchhandlung und bei Morgenbladet gearbeitet, ihre zweite Gedichtsammlung veröffentlicht und hier einen Job bekommen. Ich sagte, dass Kristiansand für mich ein Alptraum war. Aber in den zwanzig Jahren, die vergangen waren, hatte sich natürlich sicher viel verändert. Außerdem war es eine Sache, hier aufs Gymnasium zu gehen, und eine völlig andere, an der Universität angestellt zu sein.
Sie fühle sich wohl, meinte sie und wirkte gut gelaunt. Das Schreiben hatte sie vorerst an den Nagel gehängt, aber man wusste natürlich nie, was die Zukunft bringen würde. Eine Freundin kam zu uns, sie war Amerikanerin, und wir unterhielten uns ein wenig über die Unterschiede zwischen ihrer alten und neuen Heimat, ehe wir zum Hörsaal hochgingen. Es waren noch zehn Minuten bis zum Beginn. Ich hatte Bauchschmerzen, ja, mein ganzer Körper schmerzte. Und die Hände, die den ganzen Tag über in meinem Bewusstsein gezittert hatten, taten es jetzt wirklich. Ich setzte mich ans Pult, blätterte ein bisschen in den Büchern, blickte zur Eingangstür. Zwei Personen saßen im Saal. Abgesehen von mir und dem Lektor. Würde es ein solcher Tag werden?
Meine erste öffentliche Lesung, wenige Wochen, nachdem mein erster Roman erschienen war, fand in Kristiansand statt. Es kamen vier Zuhörer. Einer von ihnen, sah ich zu meiner großen Befriedigung, war mein alter Geschichtslehrer, inzwischen Rektor, Rosenvold. Hinterher ging ich zu ihm, um mich mit ihm zu unterhalten. Dabei stellte sich heraus, dass er sich kaum an mich erinnern konnte und eigentlich gekommen war, um den zweiten der drei Debütanten des Abends, Bjarte Breiteig, zu sehen und zu treffen.
So viel zum Thema Heimkehr. So viel zum Thema Rache an der Vergangenheit.
»Tja-a, dann denke ich mal, wir fangen an?«, sagte der Lektor.
Ich schaute auf die Stuhlreihen. Sieben saßen dort.
Als es eine Stunde später vorbei war, meinte Nora, sie sei beeindruckt. Ich lächelte und bedankte mich für ihre freundlichen Worte, hasste mich selbst und mein ganzes Wesen jedoch und konnte nicht schnell genug fortkommen. Glücklicherweise war Geir zwanzig Minuten früher da als verabredet, als
ich die Treppe herunterkam, stand er mitten in dem großen Foyer. Über ein Jahr war vergangen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte.
»Ich dachte, mehr Haare könntest du nicht mehr verlieren«, sagte ich. »Aber da habe ich mich offenbar geirrt.«
Wir gaben uns die Hand.
»Deine Zähne sind so gelb geworden, dass sich in der Stadt die Hunde um dich scharen werden«, erwiderte er. »Sie werden denken, du wärst ihr König. Wie ist es gelaufen?«
»Es sind sieben Zuhörer gekommen.«
»Ha ha ha!«
»Auch gut. Ansonsten ist es gut gelaufen. Wollen wir gehen? Steht dein Auto draußen?«
»Ja«, sagte er.
Dafür, dass er einen Tag zuvor seine Mutter beerdigt hatte, war er erstaunlich gut gelaunt.
»Das letzte Mal war ich hier zu einer Übung der Jugendbürgerwehr«, sagte er, als wir über den Platz vor dem Gebäude gingen. »Ganz in der Nähe
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