Lieben: Roman (German Edition)
gab es für mich nur in der Theorie. Es wäre mir allerdings auch niemals eingefallen,
ein solches Wort in den Mund zu nehmen. Schoß, Brüste, Po, so benannte ich innerlich, was ich begehrte. Ich spielte mit dem Gedanken an Selbstmord, das hatte ich schon als Kind getan, und verachtete mich dafür, denn dazu würde es niemals kommen, zu viel musste gerächt, zu viel gehasst, zu viel noch vollbracht werden. Ich zündete mir eine Zigarette an, und als sie geraucht war, ging ich zu dem leeren Haus mit den vielen Pappkartons zurück. Gegen drei Uhr nachts waren alle verteilt. Ich trug die Bilder, die im Flur standen, ins Wohnzimmer. Als ich eins von ihnen absetzte, schreckte plötzlich direkt vor meinem Gesicht ein Vogel hoch. Oh, mein Gott! Ich sprang sicher einen Meter zurück. Aber es war kein Vogel, es war eine Fledermaus. Sie flatterte mit wilden, gehetzten Bewegungen durchs Zimmer. Ich bekam panische Angst, lief hinaus, schloss die Tür hinter mir und ging ins Schlafzimmer im ersten Stock hinauf, wo ich die ganze Nacht verbrachte. Gegen sechs schlief ich ein und wachte um drei Uhr nachmittags wieder auf, warf mich in meine Klamotten und nahm den Bus zum Krankenhaus. Mutter ging es besser, aber durch die Schmerzmittel war sie immer noch ein wenig durcheinander. Wir saßen auf einer Terrasse, sie in einem Rollstuhl. Ich erzählte ihr einige der furchtbaren Dinge, die in jenem Frühjahr passiert waren. Dass ich sie, die frisch Operierte, lieber nicht hätte beunruhigen sollen, kam mir erst Jahre später in den Sinn. Als ich ins Haus zurückkehrte, hing die Fledermaus an der Wand. Ich nahm einen Eimer und stülpte ihn über sie. Hörte sie darin fuhrwerken und war kurz davor, mich vor lauter Ekel zu übergeben. Ich zog den Eimer die Wand herab und auf den Fußboden, ohne dass die Fledermaus entwich. So war sie zumindest gefangen, wenn auch noch nicht tot. Ich machte es wie in der vorherigen Nacht, schloss die Tür zum Wohnzimmer hinter mir und ging ins Schlafzimmer hinauf. Dort lag ich und las bis zum Einschlafen Stendhal, Rot und
Schwarz . Am nächsten Morgen fand ich im Schuppen einen Ziegelstein. Ich hob vorsichtig den Eimer an, die Fledermaus rührte sich nicht, ich zögerte einen Moment, konnte ich sie irgendwie nach draußen befördern? Sie vielleicht in einen Eimer schaufeln, und diesen dann mit einer Zeitung oder etwas anderem abdecken? Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, wollte ich sie nicht erschlagen. Noch ehe ich mich endgültig entschieden hatte, schlug ich mit dem Ziegelstein mit aller Kraft auf die Fledermaus ein und zermalmte sie auf dem Fußboden. Presste den Stein nach unten und drehte ihn hin und her, bis ich sicher war, dass sie nicht mehr lebte. Das Gefühl des Weichen an dem Harten saß mir noch Tage, ja, Wochen später in den Knochen. Ich schob ein Kehrbrett unter sie und warf sie in den Straßengraben. Dann putzte ich gründlich die Stelle, an der sie gelegen hatte, und nahm erneut den Bus zum Krankenhaus. Am nächsten Tag kam Mutter nach Hause, und ich war zwei Wochen lang der gute Sohn. Inmitten von leuchtendem Grün, unter dem gräulichen Talhimmel, trug ich Möbel und packte Kisten aus, bis es Zeit wurde, mein Studium an der Universität aufzunehmen und den Bus nach Bergen zu nehmen.
Wie viel von diesem Zwanzigjährigen steckte noch in mir?
Nicht viel, dachte ich, als ich zu den funkelnden Sternen über der Stadt aufblickte. Das Gefühl, ich zu sein, hatte sich nicht verändert. Also das, wozu ich täglich erwachte und wovon ich allabendlich wieder einschlief. Aber dieses Zitternde, fast Panische, war ebenso verschwunden wie die ungeheure Fokussierung auf andere Menschen. Und ihr Gegenteil, denn die megalomane Bedeutung, die ich mir selber zusprach, war kleiner geworden. Vielleicht nicht so viel kleiner, aber kleiner.
Mit zwanzig waren erst zehn Jahre vergangen, seit ich zehn war. Alles aus meiner Kindheit war mir noch nahe. Sie war noch immer mein Bezugspunkt, aus ihr heraus begriff ich die Dinge. Das war heute nicht mehr der Fall.
Ich stand auf und ging hinein. Im Schlafzimmer lagen Linda und John und schliefen dicht nebeneinander in der Dunkelheit. John so klein wie ein Ball. Ich legte mich neben die beiden und betrachtete sie eine Weile, bis auch ich einschlief.
Zehn Tage später landete ich am frühen Vormittag auf dem Flughafen Kjevik vor den Toren Kristiansands. Obwohl ich im Alter von dreizehn bis achtzehn zehn Kilometer entfernt gewohnt hatte und die Landschaft voller
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