Lieben: Roman (German Edition)
bis sich am Ende alles ganz von selbst ergab. Einen Roman zu schreiben heißt, sich ein Ziel zu setzen und anschließend zu ihm schlafzuwandeln, hatte Lawrence Durrell einmal gesagt, und das stimmte, so war es. Wir haben nicht nur Zugang zu unserem eigenen Leben, sondern zu fast allen anderen Leben, die in unserem Kulturkreis geführt werden, nicht nur Zugang zu unseren eigenen Erinnerungen, sondern auch zu den Erinnerungen dieser ganzen verdammten Kultur, denn ich bin du und du bist alle, wir kommen aus dem Gleichen und bewegen uns zum Gleichen, und unterwegs hören wir das Gleiche im Radio, sehen das Gleiche im Fernsehen, lesen die gleichen Zeitungen, und in uns lagert die gleiche Fauna der Gesichter und des Lächelns bekannter Menschen. Selbst wenn du dich in ein winzig kleines Zimmer in einer winzig kleinen Stadt Tausende Kilometer vom Zentrum der Welt entfernt hockst
und dort keiner Menschenseele begegnest, ist ihre Hölle deine Hölle, ihr Himmel dein Himmel, es gilt nur, den Ballon platzen zu lassen, der die Welt ist, und alles darin auf die Seiten fließen zu lassen.
Das wollte ich, in etwa, sagen.
Die Sprache ist allen gemeinsam, wir wachsen in sie hinein, und die Formen, in der wir sie benutzen, sind ebenfalls gemeinsame, unabhängig davon, wie idiosynkratisch du und deine Vorstellungen sind, kannst du die anderen in der Literatur niemals verlassen. Es ist umgekehrt, sie ist es, die uns einander näherbringt. Durch die Sprache, die keiner von uns besitzt und kaum einer zu prüfen vermag, und durch die Form, mit der keiner alleine brechen kann, und falls es einer tun sollte, ist dies nur sinnvoll, wenn ihm unverzüglich andere folgen. Die Form zieht sich aus dir selbst zurück, schafft eine Distanz zu deinem Ich, und diese Distanz ist die Bedingung für die Nähe zu den anderen.
Den Vortrag würde ich mit einer Anekdote über Hauge beginnen, diesen mürrischen alten Mann, der so murmelnd in sich selbst verschlossen war, so viele Jahre fast vollständig isoliert, dennoch dem Zentrum der Kultur und Zivilisation so viel näher als vielleicht sonst irgendwer in seiner Zeit. Welche Gespräche führte er? An welchen Orten hielt er sich auf?
Ich rutschte vom Stuhl und ging zur Theke, um meine Tasse nachfüllen zu lassen, und ließ mir einen Fünfziger in Münzen wechseln, denn bevor ich weiterfuhr, musste ich Linda anrufen, und mit meinem Handy konnte ich im Ausland nicht telefonieren.
Es wird schon klappen, dachte ich, als ich die beiden Blätter mit Stichworten überflog. Dass es sich um alte Gedanken handelte, hinter denen ich nicht mehr stand, war nicht so wichtig. Wichtiger war, dass ich etwas sagte.
In den letzten Jahren hatte ich mehr und mehr den Glauben an die Literatur verloren. Ich las und dachte dabei, das hat sich jemand ausgedacht. Vielleicht lag es daran, dass wir vollkommen vereinnahmt wurden von Fiktionen und Erzählungen, dass sie inflationär auftraten. Wohin man sich auch wandte, überall sah man Fiktionen. Diese Millionen von Taschenbüchern, gebundenen Büchern, Filmen und Fernsehserien auf DVD handelten von erfundenen Menschen in einer erfundenen, aber wirklichkeitsgetreuen Welt. Und die Zeitungsschlagzeilen und Fernsehnachrichten und Rundfunknachrichten hatten haargenau die gleiche Form, auch sie waren Erzählungen, und dann war es kein Unterschied mehr, ob das, wovon sie erzählten, sich tatsächlich zugetragen hatte oder nicht. Es war eine Krise, ich fühlte es mit jeder Faser meines Körpers, etwas Gesättigtes, Schmalzartiges breitete sich nicht zuletzt deshalb im Bewusstsein aus, weil der Kern in all diesen Fiktionen, ob nun wahr oder nicht wahr, in Gleichheit sowie darin bestand, dass der Abstand, den sie zur Wirklichkeit hielt, konstant blieb. Also dass sie das Gleiche sah. Dieses Gleiche, das unsere Welt war, wurde in Serie produziert. Das Einzigartige, worüber sie alle sprachen, wurde damit aufgehoben, es existierte nicht mehr, es war eine Lüge. Darin zu leben, in dem Bewusstsein, dass alles ebenso gut anders sein könnte, stürzte einen in Verzweiflung. Ich konnte darin nicht schreiben, es ging nicht, jeder einzelne Satz begegnete dem Gedanken: Das ist doch nur etwas, was du dir ausdenkst. Das ist wertlos. Das Erfundene hat keinen Wert, das Dokumentarische hat keinen Wert. Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher und Essays, die Genres in der Literatur, in denen es nicht um eine Erzählung ging, die von nichts handelten,
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