Lieben: Roman (German Edition)
ausgehen?«
»Bist du so gut gelaunt?«, sagte ich.
Sie streckte mir die Zunge heraus.
»Ich versuche nur, nett zu sein«, sagte sie.
»Habe ich kapiert«, sagte ich, »tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Okay?«
»Ja, klar.«
Ich ging an ihr vorbei und griff nach dem zweiten Band der Brüder Karamasow , der auf der Couch lag.
»Ich bin dann mal weg«, sagte ich. »Bis dann.«
»Bis dann«, sagte sie.
Jetzt hatte ich eine Stunde für mich. Es war die einzige Bedingung, die ich gestellt hatte, ehe ich tagsüber die Verantwortung für Vanja übernahm, dass ich nachmittags eine Stunde allein sein durfte, und obwohl Linda dies ungerecht fand, da sie nie eine solche Stunde gehabt hatte, ließ sie sich darauf ein. Wenn sie selbst keine solche Stunde gehabt hatte, lag es daran, nahm ich an, dass sie nicht daran gedacht hatte. Und sie hatte nicht daran gedacht, nahm ich weiterhin an, weil sie lieber mit uns zusammen, als alleine sein wollte. Das wollte ich dagegen nicht. Also saß ich jeden Nachmittag in einem Café in der Nähe und las und rauchte. Ich ging nie öfter als vier oder fünf Mal hintereinander in dasselbe Café, denn dann fingen sie an, mich wie einen so genannten »Stammkunden« zu behandeln, will sagen, sie grüßten mich, wenn ich hereinkam, und wollten mich mit ihrem Wissen über meine Vorlieben beeindrucken, gerne gepaart mit einem freundlichen Kommentar über
irgendein Phänomen, über das momentan jeder sprach. Der entscheidende Vorteil daran, in einer Großstadt zu leben, bestand für mich jedoch darin, dass ich in ihr vollkommen allein sein konnte, während ich gleichzeitig überall von Menschen umgeben war. Alle mit Gesichtern, die ich nie zuvor gesehen hatte! Der Strom neuer Gesichter, der niemals aufhörte, und in ihn einzutauchen, das war für mich die wahre Großstadtfreude. Die U-Bahn mit ihrem Gewimmel von Typen und Charakteren. Die Plätze. Die Fußgängerzonen. Die Cafés. Die großen Einkaufszentren. Distanz, Distanz, ich konnte nie genug Distanz haben. Wenn also ein »Barista« mich grüßte und lächelte, sobald er mich erblickte, und mir nicht nur eine Tasse Kaffee reichte, noch ehe ich darum gebeten hatte, sondern mir womöglich zusätzlich gratis ein Croissant anbot, wurde es Zeit, sich aus dem Staub zu machen. Außerdem war es nicht weiter schwierig, Alternativen zu finden, wir wohnten mitten in der Stadt, und in einem Zehnminutenradius um unsere Wohnung lagen hunderte Cafés.
An diesem Tag nahm ich die Regeringsgatan abwärts Richtung Zentrum. Sie war voller Menschen. Beim Gehen dachte ich an die schöne Frau in der Babyrhythmik. Worum war es da gegangen? Ich wollte mit ihr schlafen, glaubte aber natürlich nicht, dass sich mir dazu jemals die Möglichkeit bieten würde, und wenn sich mir die Möglichkeit geboten hätte, dann hätte ich es nicht getan. Warum sollte es also eine Rolle spielen, dass ich mich vor ihren Augen wie eine Frau verhielt?
Über das Selbstbild ließ sich so manches sagen, aber eins stand jedenfalls fest, es hatte nicht in den kühlen Sälen der Vernunft Gestalt angenommen. Gedanklich konnte ich das alles durchaus verstehen, aber Macht hatte mein Denken darüber nicht. Das Selbstbild galt nicht nur dem, der man war, sondern auch dem, der man sein wollte, sein konnte, einmal
gewesen war. Für das Selbstbild bestand kein Unterschied zwischen dem Realen und dem Hypothetischen. In ihm wurden alle Alter, alle Gefühle, alle Triebe hochgespült. Wenn ich mit Kinderwagen durch die Stadt ging und die Tage damit verbrachte, mich um mein Kind zu kümmern, fügte ich meinem Leben nichts hinzu, was es bereicherte, es wurde ihm im Gegenteil etwas genommen, ein Teil meiner selbst, der mit Männlichkeit zu tun hatte. Dies wurde mir nicht gedanklich klar, denn gedanklich wusste ich, dass ich dies aus einem guten Grund tat, weil Linda und ich im Verhältnis zu unserem Kind gleichgestellt sein sollten, sondern durch meine Gefühle, die mich mit Verzweiflung erfüllten, wenn ich mich in dieser Weise in eine Form presste, die so klein und eng war, dass ich mich nicht mehr rühren konnte. Die Frage lautete, welcher Parameter gelten sollte. Waren Gleichheit und Gerechtigkeit die Parameter, tja, dann war nichts daran auszusetzen, dass Männer überall ins Sanfte und Nahe sanken. Genauso wenig wie gegen den begeisterten Applaus, den dies auslöste, denn wenn Gleichheit und Gerechtigkeit die Parameter waren, bedeutete die Veränderung zweifellos eine Verbesserung und einen
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