Lieben: Roman (German Edition)
historisches Gegenwartsgefühl mit sich brachte, sie schrieben in unserer Zeit und füllten sie mit den Stimmungen, auf deren Grundlage kommende Generationen uns verstehen würden. Stockholm zu Beginn des neuen Jahrtausends, das Gefühl überkam mich, wenn ich sie sah, und es war ein gutes und großes Gefühl. Dass viele dieser Schriftsteller ihre beste Zeit in den achtziger und neunziger Jahren gehabt hatten und längst ins zweite Glied zurückgedrängt worden waren, interessierte mich nicht, mir ging es nicht um die Wirklichkeit, sondern um die Verzauberung. Von den jungen Autoren, die ich gelesen hatte, gefiel mir lediglich Jerker Virdborg, sein Roman Eis hatte etwas, das sich über den Nebel aus Moral und Politik erhob, in dem die anderen hockten. Es war sicher kein fantastischer Roman, aber er hielt Ausschau nach etwas anderem. Das war die einzige Verpflichtung, die Literatur hatte, in jeder anderen Hinsicht war sie frei, in dieser jedoch nicht, und wenn Autoren dies versäumten, hatten sie nichts als Verachtung verdient.
Wie ich ihre Zeitschriften hasste. Ihre Artikel. Gassilewski, Raattamaa, Hallberg. Sie waren so grauenvolle Autoren.
Nein, nicht in die Akademiebuchhandlung.
Ich blieb am Zebrastreifen stehen. Auf der anderen Seite, in der Passage zu dem alten und traditionsreichen Kaufhaus NK, lag ein kleines Einkaufspassagencafé, für das ich mich
entschied. Obwohl ich es häufig besuchte, war der Menschenstrom so groß und die Umgebung so anonym, dass man trotzdem verschwand.
Es gab einen freien Tisch neben dem Geländer vor der Treppe zum Baumarkt im Untergeschoss. Ich hängte meine Jacke über den Stuhl, legte das Buch mit der Titelseite nach unten und dem abgewandten Buchrücken auf den Tisch, damit niemand sehen konnte, was ich las, und reihte mich in die Schlange an der Theke ein. Die drei, die dort arbeiteten, zwei Frauen und ein Mann, ähnelten einander wie Geschwister. Die älteste von ihnen, die gerade vor der zischenden Kaffeemaschine stand, hatte ein Aussehen und eine Ausstrahlung, wie man sie sonst nur in Illustrierten fand, und das Bildhafte an ihr neutralisierte beinahe die Lust, die ich empfand, wenn ich sah, wie sie sich dort hinter der Theke bewegte, als wäre die Welt, in der ich unterwegs war, unvereinbar mit ihrer, und so war es wohl auch. Zwischen uns gab es keinen einzigen Berührungspunkt außer dem des Blicks.
Verdammt. Jetzt fing ich schon wieder an.
Wollte ich nicht damit aufhören?
Ich zog einen zerknitterten Hunderter aus der Tasche und strich ihn in der Hand glatt. Ließ den Blick über die anderen Gäste schweifen, die fast alle auf einem Stuhl saßen, neben sich die vielen glänzenden Einkaufstüten auf einem zweiten. Blanke Stiefel und Schuhe, schlicht geschnittene Kleider, Anzüge und Mäntel, der eine oder andere Pelzkragen, die eine oder andere Goldkette, alte Haut und alte Augen in ihren alten, bemalten Höhlen. Kaffee wurde getrunken, Gebäckstücke verzehrt. Ich hätte unendlich viel dafür gegeben zu erfahren, was sie dachten. Wie diese Welt in ihren Augen aussah. Und wenn sie radikal anders wäre als die, die ich sah? Voller Freude über die dunklen Bezüge der Ledercouch, die schwarze Fläche und den bitteren Geschmack des Kaffees, ganz zu
schweigen von dem gelben Auge aus Vanillecreme im bauchigen und aufgeplatzten Terrain des Blätterteigs. Man stelle sich vor, diese ganze Welt sänge in ihnen. Man stelle sich vor, sie wären bis zum Bersten gefüllt mit den vielen Gaben dieses Tages. Zum Beispiel ihre Einkaufstüten, wie raffiniert und extravagant war doch diese Kordel, mit der manche statt des kleinen angeklebten Papphandgriffs der Supermärkte ausgestattet waren. Und die Logos, die jemand tatsächlich mit all seinen Fachkenntnissen und seinem Expertenwissen in tage- und wochenlanger Arbeit gestaltet hatte, für die er bei Besprechungen mit anderen Abteilungen Rückmeldungen bekommen hatte, an denen er weitergearbeitet hatte, von denen er eventuell Freunden und Familienmitgliedern Proben gezeigt hatte, wegen denen er nachts wach gelegen hatte, denn bestimmt war es so, dass sie irgendwem nicht gefallen hatten, trotz all der Sorgfalt und Cleverness, die darauf verwandt worden waren, bis schließlich der Tag kam, an dem sie umgesetzt wurden, um nun zum Beispiel im Schoß der Frau in den Fünfzigern mit den steifen, fast golden gefärbten Haaren zu liegen.
So exaltiert wirkte sie eigentlich gar nicht. Eher sanft nachsinnend. Erfüllt von einem großen inneren
Weitere Kostenlose Bücher