Lieben: Roman (German Edition)
Fortschritt. Aber es gab andere Parameter. Glück war einer, Lebensintensität ein anderer. Und es war möglich, dass Frauen, die ihre Karriere vorantrieben, bis sie auf die vierzig zugingen, und kurz vor Toresschluss ein Kind bekamen, um das sich der Mann nach einigen Monaten kümmerte, ehe es in den Kindergarten kam, damit sie beide ihre Karriere fortsetzen konnten, glücklicher waren, als es die Frauen früherer Generationen waren. Möglich, dass die Männer, die zu Hause blieben und sich für ein halbes Jahr um ihre Kleinkinder kümmerten, dadurch ihre Lebensintensität erhöhten. Es war auch möglich, dass die Frauen diese Männer mit den dünnen Armen, breiten Hüften, rasierten Köpfen und schwarzen Designerbrillen, die ebenso gerne über die Vor- und Nachteile von Babybjörn-Tragesitzen
im Vergleich zu Tragetüchern redeten, wie darüber, ob es besser war, selbst für die Kinder zu kochen oder etwas ökologisch Vorproduziertes zu kaufen, wirklich begehrten. Es war möglich, dass sie diese Männer von ganzem Herzen und mit ihrer ganzen Seele haben wollten. Aber wenn die Frauen sie nicht wollten, war das nicht entscheidend, denn Gleichheit und Gerechtigkeit lauteten die Parameter, sie stellten alles andere in den Schatten, woraus ein Leben, eine Beziehung besteht. Es war eine Wahl, und die Wahl war getroffen worden. Das galt auch für mich. Wäre es mir anders lieber gewesen, hätte ich das Linda klarmachen müssen, bevor sie schwanger wurde, ich will Kinder haben, aber ich will nicht zu Hause bleiben und mich um sie kümmern, ist das okay für dich? Das bedeutet immerhin, dass du dies übernehmen musst. Darauf hätte sie antworten können, nein, das finde ich nicht okay, oder, ja, das ist okay, und wir hätten unsere Zukunft auf dieser Basis planen können. Aber das tat ich nicht, so vorausschauend war ich nicht, und deshalb musste ich mich an die geltenden Spielregeln halten. In der Klasse und der Kultur, zu der wir gehörten, hieß dies, dass wir beide in dieselbe Rolle schlüpften, die früher die Frauenrolle genannt wurde. An sie war ich gebunden wie Odysseus an den Mast: Wollte ich mich befreien, so war dies möglich, aber nicht, ohne alles zu verlieren, was ich hatte. So kam es, dass ich modern und verweiblicht mit einem wutschnaubenden Mann aus dem 19. Jahrhundert in meinem Inneren durch die Straßen Stockholms lief. Wie ich gesehen wurde, veränderte sich wie von Zauberhand, sobald ich die Hände auf den Griff des Kinderwagens legte. Ich hatte immer die Frauen angesehen, an denen ich vorbeiging, wie es alle Männer zu allen Zeiten getan haben, ein im Grunde rätselhaftes Verhalten, denn es kann ja zu nichts führen außer einer kurzen Erwiderung des Blicks, und sah ich eine wirklich schöne Frau, kam es gelegentlich
sogar vor, dass ich mich nach ihr umdrehte, natürlich diskret, aber trotzdem: warum in aller Welt? Welche Funktion erfüllten all diese Augen, diese Münder, all diese Brüste und Taillen, Beine und Hintern? Warum war es so wichtig, sie zu sehen? Wenn ich nur wenige Sekunden oder auch mal Minuten später ohnehin wieder alles über sie vergessen hatte? Ab und zu begegnete eine meinem Blick, und dann durchzuckte mich manchmal ein Schwindelgefühl, wenn er diese klitzekleine Sekunde länger dauerte, denn er kam von einem Menschen in der Menge, ich wusste nichts über die Frau, woher sie kam, wie sie lebte, nichts, aber trotzdem, wir sahen uns, darum ging es, und dann war es zu Ende, dann war sie vorbei, und daraufhin wurde er für alle Zeit aus meinem Gedächtnis gestrichen. Wenn ich mit dem Kinderwagen kam, sah keine Frau mich an, es war, als existierte ich überhaupt nicht. Nun könnte man möglicherweise glauben, dass es so war, weil ich so deutlich signalisierte, dass ich beschäftigt war, aber das tat ich wahrlich auch, wenn ich Hand in Hand mit Linda ging, und das hatte noch nie irgendwen davon abgehalten, in meine Richtung zu schauen. Oh, bekam ich nicht nur, was ich verdiente, wurde ich nicht bloß zurechtgestutzt? Herumlaufen und die Frauen anglotzen, wenn du eine zu Hause hast, die dein Kind geboren hat?
Nein, das war natürlich nicht gut.
Das war es natürlich nicht.
Tonje erzählte mir einmal von einem Mann, dem sie in einem Lokal begegnet war, es war spät, er kam zu ihrem Tisch, war betrunken, aber harmlos, hatte sie jedenfalls gedacht, weil er ihr erzählte, dass er direkt aus der Entbindungsstation kam, seine Liebste hatte an dem Tag ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt
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