Lieben: Roman (German Edition)
hatte. Meine Kommentare gerieten umfangreich und detailliert, sie umfassten über neunzig Seiten, und meine kritischen Anmerkungen waren leider oft in einem ironischen Tonfall gehalten. Ich war davon ausgegangen, dass Geir alles einstecken konnte, hätte
es aber eigentlich besser wissen müssen, denn kein Mensch steckt alles ein, und wenn es um die eigene Arbeit geht, gehören Sarkasmen zu den Dingen, mit denen man am schwersten zurechtkommt. Aber ich konnte es einfach nicht lassen; wenn ich Verlagsgutachten schrieb, war es das Gleiche, ich wurde schnell ironisch. Das Problem von Geirs Manuskript bestand darin, wie er wusste und zugab, dass es oft eine große Distanz zu den Geschehnissen gab und vieles unausgesprochen blieb. Nur ein Blick von außen konnte da Abhilfe schaffen. Und den hatte er bekommen. Aber ironisch, viel zu ironisch … Lag es vielleicht daran, dass ich den unbewussten Wunsch hegte, ihn von oben herab zu behandeln, weil er sonst immer so souverän war?
Nein.
Nein?
»Dafür bitte ich vielmals um Entschuldigung«, sagte ich jetzt, legte den dritten Hummer auf den Rücken und stach das Messer am Bauch durch den Panzer. Er war weicher als bei einer Krabbe, und seine Konsistenz ließ mich denken, dass er fast künstlich wirkte, wie etwas aus Plastik. Hatte nicht auch seine rote Farbe etwas Artifizielles? Und all die schönen kleinen Details, wie die Rillen in den Scheren oder das Panzerartige am Schwanzschild, sahen sie nicht aus, als wären sie in der Werkstatt eines Renaissance-Künstlers entstanden?
»Das ist nur recht und billig«, erwiderte Geir. »Zehn Ave Maria für deine sündige und boshafte Seele. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie es ist, deine Kommentare vor sich zu haben und sich Tag für Tag von ihnen verhöhnen zu lassen? ›Bist du wirklich so ein Idiot‹, tja, das bin ich dann wohl …«
»Das ist doch nur eine Frage der Technik«, sagte ich und schaute zu ihm hinüber, während ich mit dem Messer den Panzer durchschnitt.
»Technik? Technik? Na, du hast gut reden. Du kannst auf zwanzig Seiten einen Toilettenbesuch so gestalten, dass die Leser leuchtende Augen bekommen. Was glaubst du eigentlich, wie viele das können? Warum sitzen die Leute denn da und basteln an ihren modernistischen Gedichten mit drei Wörtern auf einer Seite? Weil sie nichts anderes können. Das musst du nach all den Jahren doch verdammt nochmal kapiert haben. Hätten sie es gekonnt, hätten sie es auch gemacht. Du kannst es und weißt es nicht zu schätzen. Dir bedeutet es nichts, du willst lieber tüchtig sein und essayistisch schreiben. Dabei kann jeder Essays schreiben! Es ist kinderleicht.«
Ich betrachtete das weiße Fleisch mit den roten Fasern darin, das auftauchte, sobald der Panzer durchschnitten war. Roch das schwache Aroma von Salzwasser.
»Du sagst, dass du beim Schreiben die Buchstaben nicht siehst, stimmt’s?«, fuhr er fort. »Scheiße, ich sehe nur Buchstaben. Sie verflechten sich vor meinen Augen zu einer Art Spinnennetz. Nichts geht davon aus, verstehst du, alles wendet sich nach innen wie so ein eingewachsener Zehennagel.«
»Wie lange arbeitest du jetzt daran?«, sagte ich. »Ein Jahr? Das ist gar nichts. Ich schreibe jetzt seit sechs Jahren, und alles, was ich habe, ist ein idiotischer Essay von hundertdreißig Seiten über Engel. Komm 2009 wieder, dann werde ich eher Mitleid mit dir haben. Außerdem war es gut, was ich gelesen habe. Eine fantastische Geschichte, gute Interviews. Der Text muss nur überarbeitet werden.«
»Ha!«, sagte Geir.
Ich legte die beiden Hummerhälften mit der Schale nach oben auf die Platte.
»Du weißt ja wohl, dass es das Einzige ist, womit ich dich kriegen kann?«, sagte ich und griff nach dem letzten Hummer.
»Na ja«, sagte er. »Es gibt mindestens zwei Dinge, die du über mich weißt und die sonst niemand erfahren sollte.«
»Ach so, das«, sagte ich. »Aber das ist doch etwas ganz anderes.«
Er lachte laut und herzlich.
Dann vergingen ein paar Sekunden, ohne dass etwas gesagt wurde.
War er beleidigt?
Ich begann, den Hummer mit dem Messer zu spalten.
Schwer zu sagen. Er hatte mir einmal gesagt, falls ich ihn jemals verletzen sollte, würde ich es niemals erfahren. Er war ebenso stolz wie hochmütig, arrogant wie loyal. Laufend verlor er Freunde, vielleicht, weil er so selten einlenkte und niemals davor zurückschreckte, seine Meinung zu sagen. Und was er meinte, gefiel niemandem oder zumindest nur den wenigsten. Ein Jahr zuvor, im
Weitere Kostenlose Bücher