Lieben: Roman (German Edition)
Leben
am nächsten kam, das er beschrieb. Ein Boxer wurde niemals nach dem beurteilt, was er sagte oder meinte, sondern nach dem was er tat.
Misologie, Misstrauen gegenüber Worten, wie es bei Pyrrhon der Fall gewesen war, Pyrrhonismus, war das eine Richtung, in die ein Schriftsteller sich bewegen sollte? Allem, was sich mit Worten sagen lässt, kann mit Worten widersprochen werden, was sollen wir also mit Abhandlungen, Romanen, Literatur? Oder anders formuliert: Wovon man sagt, es sei wahr, von dem lässt sich auch immer sagen, es sei unwahr. Das ist ein Nullpunkt und der Ort, von dem aus sich der Nullwert ausbreitet. Doch dies ist kein toter Punkt, auch nicht für die Literatur, denn die Literatur besteht nicht nur aus Worten, die Literatur ist das, was die Worte im Leser erwecken. Es ist diese Überschreitung, die Literatur gültig macht, nicht die formale Überschreitung an sich, wie viele glauben. Paul Celans chiffrenhafte und rätselhafte Sprache hat nichts mit Unzugänglichkeit oder Hermetik zu tun, im Gegenteil, es geht darum, etwas zu öffnen, wozu die Sprache sonst keinen Zugang hat, das wir aber dennoch, an einem Ort tief in uns, erkennen oder wiedererkennen oder, wenn nicht das, entdecken. Paul Celans Worten kann nicht mit Worten widersprochen werden. Was sie besitzen, kann auch nicht umgesetzt werden, es existiert nur dort und in jedem Einzelnen von denen, die es in sich aufnehmen.
Dass Gemälde und teilweise auch Fotos für mich so wichtig waren, hing damit zusammen. Sie waren ohne Worte, ohne Begriffe und wenn ich sie betrachtete, war das, was ich empfand, was sie so wichtig machte, auch begrifflos. Es gab darin etwas Dummes, ein Areal, das bar jeder Intelligenz war und das ich nur sehr schwer anerkennen oder zulassen konnte, das aber gleichwohl vielleicht das wichtigste Element von dem war, womit ich mich beschäftigen wollte.
Ein halbes Jahr, nachdem ich Geirs Buch gelesen hatte, schickte ich ihm eine Mail und fragte ihn, ob er einen Essay für die Literaturzeitschrift Vagant schreiben wolle, zu deren Redaktion ich damals gehörte. Das wollte er, wir wechselten ein paar Mails, stets sachlich und formell. Ein Jahr später, als ich von einem Tag auf den anderen Tonje und mein ganzes Leben mit ihr in Bergen verließ, erkundigte ich mich in einer Mail an ihn, ob er wüsste, wo ich in Stockholm wohnen könne, was er verneinte, aber ich könne bei ihm wohnen, bis ich eine Bleibe gefunden habe. Das Angebot würde ich gerne annehmen, schrieb ich ihm. In Ordnung, schrieb er, wann willst du kommen? Morgen, schrieb ich. Morgen? , schrieb er.
Einige Stunden später, nach einer Nacht im Zug von Bergen nach Oslo und einem Vormittag im Zug von Oslo nach Stockholm, schleppte ich meine Koffer vom Bahnsteig in die Gänge unter dem Stockholmer Hauptbahnhof, auf der Suche nach einem Gepäckfach, das groß genug war für beide. Während der gesamten Zugfahrt hatte ich gelesen, um mich davon abzulenken, was in den letzten Tagen geschehen war und den Grund für meinen Aufbruch bildete, doch nun, mitten in diesem Gewimmel von Menschen, die auf dem Weg von oder zu Pendlerzügen waren, ließ sich meine Unruhe nicht länger betäuben. Bis tief in meine Seele hinein kalt ging ich den Gang hinab. Nachdem ich die Koffer in zwei Schließfächern deponiert und die Schlüssel in die Tasche gesteckt hatte, in der normalerweise meine Hausschlüssel lagen, ging ich auf die Toilette und wusch mir in dem Versuch, präsenter zu werden, das Gesicht mit kaltem Wasser. Sekundenlang betrachtete ich mich im Spiegel. Das Gesicht war blass und eine Spur aufgedunsen, die Haare ungepflegt und die Augen… ja, die Augen … Sie starrten, aber nicht aktiv, nach außen gerichtet, als hielten sie nach etwas Ausschau, sondern eher, als fiele das, was sie sahen, in sie hinein, als saugten sie alles auf.
Wann hatte ich einen solchen Blick bekommen?
Ich ließ heißes Wasser laufen und hielt die Hände eine Weile darunter, bis sich allmählich Wärme in ihnen ausbreitete, riss etwas Papier aus dem Spender, trocknete sie ab und warf das Papierknäuel in den Abfalleimer neben dem Becken. Ich wog 101 Kilo und hoffte auf nichts. Aber jetzt war ich hier, das war immerhin etwas, dachte ich und ging hinaus, die Treppe hoch und in die Bahnhofshalle, in deren Mitte ich rundum von Menschen umgeben stehen blieb, während ich eine Art Plan zu schmieden versuchte. Es war kurz nach zwei. Um fünf wollte ich mich hier mit Geir treffen. Also musste ich drei
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