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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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gesehen wurde Geirs Buch für mich genauso wichtig, wie es Michel Serres Statues gewesen war, in dem das Archaische, das wir sind und in das wir immer getaucht waren, mit beunruhigender Klarheit hervortritt, und wie Die Ordnung der Dinge von Michel Foucault, in dem der Einfluss, den Gegenwart und Gegenwartssprache auf unsere Vorstellungen und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit haben, deutlich zutage tritt, und man sieht, wie eine begriffliche Welt, in der alle ganz und gar leben, die andere ablöst. All
diesen Büchern gemeinsam war, dass sie einen Ort außerhalb der Gegenwart etablierten, entweder an ihrem Rand, also den Boxclub, der wie eine Art Enklave war, in der einige der wichtigsten Werte aus der näheren Vergangenheit weiterlebten, oder in der Tiefe der Geschichte, von wo aus das, was wir waren oder zu sein glaubten, vollständig umgewälzt wurde. Wahrscheinlich hatte ich mich insgeheim tastend und für das Denken praktisch unsichtbar auf diesen Punkt zubewegt, und daraufhin traten diese Bücher in mein Leben, wurden sozusagen vor mir auf den Tisch gelegt, und mir wurde etwas Neues klar. Wie alle bahnbrechenden Bücher formulierten sie in Worten, was für mich Ahnungen, Gefühle, Wahrnehmungen gewesen waren. Ein dumpfes Unbehagen, eine dumpfe Unzufriedenheit. Ein dumpfer, zielloser Zorn. Jedoch keine Richtung, keine Klarheit, keine Stringenz. Dass gerade Geirs Buch so wichtig für mich wurde, lag aber auch daran, dass wir aus ganz ähnlichen Verhältnissen stammten – wir waren gleichaltrig, wir kannten dieselben Menschen aus denselben Orten, wir hatten beide unser Leben mit Lesen und Schreiben und Studieren verbracht – wie war es also möglich, dass er an einem so radikal anderen Ort gelandet war? Seit meiner Grundschulzeit war ich wie alle anderen dazu angehalten worden, kritisch und selbständig zu denken. Dass dieser kritische Gedanke nur bis zu einem bestimmten Punkt etwas Positives war und er sich jenseits dieses Punkts in sein Gegenteil verkehrte und zu einem Übel oder selbst übel wurde, begriff ich erst, als ich schon über dreißig war. Warum so spät, kann man sich fragen. Es lag zum Teil an meinem treuen Weggefährten, der Naivität, die in ihrer Vetter-vom-Land-artigen Gutgläubigkeit zwar Zweifel zu Meinungen säen konnte, aber niemals zu den Voraussetzungen von Meinungen, und sich folglich niemals fragte, ob »das Kritische« wirklich kritisch war, ob »das Radikale« wirklich radikal war, ob »das Gute« wirklich gut
war, wie es jeder vernünftige Mensch tut, sobald er sich aus dem selbstberauschten und von Gefühlen betäubten Griff der Anschauungen seiner Jugendzeit befreit hat; es lag zum Teil aber auch daran, dass ich wie so viele in meiner Generation dazu hingeführt worden war, abstrakt zu denken, das heißt, mir Wissen über verschiedene Denkrichtungen in verschiedenen Fachgebieten anzueignen. Es mehr oder weniger kritisch wiederzugeben, gerne im Lichte anderer Denkrichtungen, um anschließend dafür beurteilt zu werden, manchmal aber auch meiner eigenen Erkenntnis zuliebe, meiner eigenen Wissbegier zuliebe, ohne dass die Gedanken deshalb das Abstrakte verlassen hätten, weshalb das Denken schließlich ganz und gar eine Aktivität bildete, die sich zwischen sekundären Phänomenen abspielte, der Welt, wie sie in Philosophie, Literatur, Gesellschaftswissenschaft, Politik erschien, während die von mir bewohnte Welt, in der ich schlief, aß, redete, liebte, lief, die roch, schmeckte, klang, in der es regnete und stürmte, die man auf der Haut fühlte, ferngehalten wurde, für das Denken kein Thema war. Das heißt, ich dachte natürlich auch dort, aber auf andere, praktischere Art, auf eine Phänomen für Phänomen erfassende Weise und ausgehend von anderen Motiven: Während ich in der abstrakten Wirklichkeit dachte, um sie zu verstehen, dachte ich in der konkreten Wirklichkeit, um sie zu bewältigen. In der abstrakten Wirklichkeit konnte ich mir ein Selbst fabrizieren, ein Selbst aus Meinungen, in der konkreten Wirklichkeit war ich, wer ich war, ein Körper, ein Blick, eine Stimme. Sie ist der Ausgangspunkt für jegliche Selbständigkeit. Auch das selbständige Denken. Geirs Buch handelte nicht nur von ihr, es spielte sich auch in ihr ab. Er beschrieb lediglich, was er mit eigenen Augen gesehen, was er mit eigenen Ohren gehört hatte, und wenn er zu verstehen versuchte, was er sah und hörte, geschah dies, indem er ein Teil davon wurde. Das war zudem die Form von Reflexion, die dem

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