Lieben: Roman (German Edition)
Winter, war es zwischen uns zu einer nicht geringen Verstimmung gekommen; wenn wir ausgingen, saßen wir die meiste Zeit schweigend auf unseren Barhockern, und wenn überhaupt etwas gesagt wurde, ließ er eigentlich immer nur etwas Ironisches über mich oder meine Belange fallen, während ich mein Bestes gab, um mich zu revanchieren. Dann hörte ich plötzlich nichts mehr von ihm. Zwei Wochen später rief Christina an und erzählte, er sei zur Feldarbeit in die Türkei gereist und werde mehrere Monate fort sein. Ich war überrascht, das war eine unerwartete Wendung, und ein wenig gekränkt, weil er es mir gegenüber mit keinem Wort erwähnt hatte. Einige Wochen später hörte ich von einem Bekannten in Norwegen, dass Geir für die Zeitung Dagsrevyn als lebender Schutzschild in Bagdad interviewt worden war. Ich musste grinsen, das war nun wirklich typisch für ihn, gleichzeitig wollte mir nicht in den Kopf, warum er mir das verschwiegen hatte. Später stellte sich heraus, dass ich ihn irgendwie beleidigt hatte. Worin diese Beleidigung bestanden hatte, erfuhr ich dagegen nie. Als er vier Monate später nach Stockholm zurückkehrte, beladen mit Mikrokassetten
voller Interviews, nachdem er sich wochenlang mitten im Bombenhagel aufgehalten hatte, war er jedoch wie runderneuert. Von der fast schon krisenhaften Niedergeschlagenheit des Herbsts und Winters war nichts geblieben, und als wir unsere Freundschaft wiederaufleben ließen, geschah es an dem Punkt, an dem sie einst begonnen hatte.
Geir und ich waren ein Jahrgang und wenige Kilometer voneinander entfernt auf Inseln vor Arendal aufgewachsen – Hisøya und Tromøya –, ohne uns zu kennen, da der natürliche Berührungspunkt erst mit dem Wechsel ins Gymnasium gekommen wäre, als ich längst nach Kristiansand umgezogen war. Zum ersten Mal begegnet waren wir uns stattdessen auf einer Fete in Bergen, wo wir beide studierten. Er hielt lose Kontakt zu jenem Arendal-Zirkel, zu dem auch ich über Yngve sporadisch Kontakt hatte, und als ich mich mit ihm unterhielt, dachte ich, dass er der Freund werden könnte, der mir gefehlt hatte, denn damals, in meinem ersten Jahr in Bergen, hatte ich niemanden und klammerte mich an Yngve. Wir gingen ein paar Mal miteinander weg, er lachte die ganze Zeit und besaß eine Unbekümmertheit, die mir gefiel. Gleichzeitig interessierte er sich wirklich für die Menschen um sich herum und hatte etwas über sie zu sagen. Er war jemand, der unter die Oberfläche drang und damit jemand, der den Unterschied ausmachte. Ich hatte einen neuen Freund gefunden, das war mein positiver Gedanke in diesen Wochen des Frühjahrs 1989. Dann stellte sich jedoch heraus, dass er fortgehen würde, Bergen war für ihn kein Ort zum Verweilen, und als die Prüfungsphase vorüber war, packte er auf der Stelle seine Sachen und zog nach Uppsala in Schweden. Ich schrieb ihm in jenem Sommer einen Brief, den ich allerdings niemals abschickte, und daraufhin verschwand er aus meinem Leben und meinen Gedanken.
Elf Jahre später schickte er mir ein Buch. Es ging darin ums Boxen und trug den Titel Die Ästhetik der gebrochenen Nase . Sowohl seine Unbekümmertheit als auch seine Fähigkeit, unter die Oberfläche der Dinge zu dringen, waren intakt geblieben, stellte ich nach ein paar Seiten fest, und darüber hinaus, dass seit damals einiges dazugekommen war. Drei Jahre hatte er in einem Stockholmer Club geboxt, um sich dem Milieu anzunähern, das er beschrieb. Dort wurden weiterhin Werte wie Männlichkeit, Ehre, Gewalt und Schmerz, die unsere Wohlstandsgesellschaft ansonsten zurückgedrängt hatte, hochgehalten, und ich fand interessant, wie anders die Gesellschaft aussah, wenn sie aus dem Blickwinkel dieser Werte betrachtet wurde. Die Kunst bestand darin, dieser Welt ohne all das zu begegnen, was man in der anderen hatte, und zu versuchen, sie so zu sehen, wie sie war, also zu ihren eigenen Bedingungen, um anschließend, auf dieser Basis, den Blick erneut nach außen zu richten. Dann sah alles anders aus. In seinem Buch verknüpfte Geir, was er sah und beschrieb, mit einer klassischen antiliberalen Hochkultur, die in einer Linie von Nietzsche und Jünger bis zu Mishima und Cioran führte. In ihr war nichts käuflich, ließ sich nichts am Geldwert messen, und darin, oder aus dieser Perspektive, entdeckte ich, in welchem Maße Dinge, die ich stets als naturgegeben, als Teil von mir betrachtet hatte, im Grunde das genaue Gegenteil waren, also relativ und willkürlich. So
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