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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Stunden Zeit totschlagen. Essen musste ich. Einen Schal brauchte ich. Und die Haare sollte ich tunlichst loswerden.
    Ich verließ den Bahnhof und blieb auf dem Platz vor den Taxis erneut stehen. Der Himmel war grau und kalt, die Luft feucht. Zu meiner Rechten lag ein Wirrwarr aus Straßen und Betonbrücken, hinter ihnen Waser, dahinter wiederum eine Reihe monumental aussehender Gebäude. Zur Linken eine breite, stark befahrene Straße, geradeaus eine Straße, die nach einer Steigung entlang einer schmutzigen Mauer nach links abbog, dahinter lag eine Kirche.
    Welchen Weg sollte ich einschlagen?
    Ich setzte den Fuß auf eine Bank, drehte mir eine Zigarette, zündete sie an und ging nach links. Hundert Meter weiter blieb ich stehen. Das sah wenig vielversprechend aus, alles hier war im Hinblick auf vorbeirauschende Autos gebaut worden, und so machte ich kehrt, ging zurück und versuchte es stattdessen mit der Straße geradeaus, die zu einer breiten, avenueartigen Straße mit einem riesigen Kaufhaus aus Backstein auf der anderen Seite führte. Dahinter lag ein irgendwie in die Erde eingelassener Platz, an dessen rechter Seite sich ein großes Gebäude mit Glasfront erhob. KULTURHUSET stand mit roten Buchstaben darauf, und ich ging hinein und
nahm die Rolltreppe in den zweiten Stock, wo es ein Café gab, kaufte ein Baguette mit Fleischbällchen und Rotkohlsalat und setzte mich ans Fenster, von wo aus ich auf den Platz und die Straße vor dem Kaufhaus hinunterschauen konnte.
    Sollte ich hier leben? War das der Ort, an dem ich nun leben würde?
    Gestern Vormittag war ich zu Hause in Bergen gewesen.
    Gestern, das war gestern.
    Tonje hatte mich zum Zug begleitet. Das künstliche Licht in der Bahnsteighalle, die Fahrgäste vor den Waggons, die schon auf Nacht eingestellt waren und mit leisen Stimmen sprachen, die Kofferräder, die über den Asphalt scharrten. Sie weinte. Ich weinte nicht, umarmte sie nur, strich ihr die Tränen von der Wange, sie lächelte durch die Tränen hindurch, und ich stieg ein, dachte, dass ich sie nicht weggehen, nicht ihren Rücken sehen wollte, konnte es aber nicht lassen, schaute aus dem Fenster und sah sie den Bahnsteig hinabgehen und durch den Ausgang verschwinden.
    Würde sie dort bleiben?
    In unserem Haus?
    Ich aß einen Bissen von dem Baguette und blickte auf den schwarz-weiß-karierten Platz hinunter, um auf andere Gedanken zu kommen. Vor den zahllosen Geschäften auf der anderen Straßenseite war der Platz von Menschen schwarz. Sie gingen durch die Türen zur U-Bahn-Station ein und aus, in den Tunnel zur Galerie hinein und wieder heraus, die Rolltreppen aufwärts und abwärts. Regenschirme, Mäntel, Jacketts, Taschen, Tragetüten, Rucksäcke, Mützen, Kinderwagen. Über ihnen Autos und Busse.
    Auf der Uhr an der Wand des Kaufhauses war es zehn Minuten vor drei. Am besten ließ ich mir als Nächstes die Haare schneiden, damit die Zeit nicht doch zu knapp wurde. Auf der Rolltreppe nach unten zog ich das Handy heraus und
blätterte durch die gespeicherten Namen, aber ich hatte bei niemandem das Bedürfnis anzurufen, denn zu viel musste erklärt werden, zu viel musste gesagt werden, zu wenig würde zurückkommen, und als ich erneut in den trostlosen Märznachmittag hinauskam, mittlerweile fielen ein paar schwere Schneeflocken, schaltete ich es aus und legte es in die Tasche zurück, ehe ich die Drottninggatan hinaufging und nach einem Friseursalon Ausschau hielt. Vor dem Kaufhaus stand ein Mann und spielte Mundharmonika. Im Grunde spielte er nicht, sondern blies nur mit aller Kraft in die Mundharmonika, wobei er seinen Oberkörper jäh hin und her warf. Er hatte lange Haare, sein Gesicht war gezeichnet. Die ungeheure Aggression, die er ausstrahlte, drang direkt in mich ein. Als ich an ihm vorbeikam, pochte in meinen Ohren die Angst. Unmittelbar dahinter, am Eingang zu einem Schuhgeschäft, beugte sich eine junge Frau über einen Kinderwagen und hob ein Baby heraus. Es lag in einer Art pelzgefüttertem Beutel und starrte, offensichtlich unberührt von dem, was mit ihm geschah, vor sich hin. Die Frau drückte das Kind mit einer Hand an sich und öffnete mit der anderen die Tür zu dem Geschäft. Der Schnee schmolz, sobald er den Erdboden berührte. Ein Mann saß auf einem Klappstuhl und hielt ein großes Schild, auf dem stand, dass es fünfzig Meter weiter links ein Restaurant gab, in dem man für 109 Kronen Dielenfleisch bekommen konnte. Dielenfleisch?, dachte ich. Viele der vorbeigehenden Frauen

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