Lieben: Roman (German Edition)
eine halbe Stunde später auf die Straße hinaustrat, legte sich die kalte Luft wie ein Helm um meinen frisch geschnittenen Kopf. Es war fast vier, der Himmel würde schon bald ganz schwarz sein. Ich ging in eine H&M-Filiale, die mir bereits vorher ins Auge gefallen war, um einen Schal zu kaufen. Die Herrenabteilung lag im Untergeschoss. Als ich nach einigem Suchen keine Schals finden konnte, ging ich zur Kasse und fragte ein junges Mädchen auf Norwegisch, wo sie zu finden waren.
»Wie bitte?«, sagte sie.
»Wo haben Sie Schals?«, wiederholte ich auf Norwegisch.
»Ich verstehe Sie leider nicht. I’m sorry. What did you say?«
»Die Schals«, sagte ich. Griff mir an den Hals. »Wo sind sie?«
»I don’t understand«, sagte sie. »Do you speak English?«
»Scarfs«, sagte ich. »Do you have any scarfs?«
»Oh, scarfs «, sagte sie. »No, I’m sorry. It’s not the season for them anymore.«
Wieder auf der Straße überlegte ich einen Moment, ob ich zu Åhléns gehen sollte, wie das große Kaufhaus hieß, um dort nach einem Schal zu suchen, verwarf den Gedanken jedoch, das war genug Idiotie für einen Tag gewesen, und ging stattdessen erneut die Straße in Richtung der Pension hinauf, in der ich zwei Jahre zuvor im Sommer gewohnt hatte, allerdings nur, weil es besser war, mit einem Ziel zu gehen, statt ohne. Unterwegs kam ich an einem Antiquariat vorbei. Die Regale darin waren hoch und standen so dicht, dass man sich zwischen ihnen kaum umdrehen konnte. Nachdem ich einen gleichgültigen Blick auf die Buchrücken geworfen hatte, wollte ich schon wieder gehen, als mir ein Buch von Hölderlin auf einem Stapel an der Ecke der Ladentheke ins Auge fiel.
»Kann man das kaufen?«, fragte ich den Händler, einen Mann in meinem Alter, der mich bereits eine Weile angesehen hatte.
»Natürlich«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.
Gesänge lautete der schwedische Titel. Handelte es sich dabei etwa um eine Übersetzung der Vaterländischen Gesänge ?
Ich schlug die Kolophonseite auf. Erschienen war das Buch 2002. Es war also ganz neu. Aber ich fand dort nichts zum Titel, so dass ich das Nachwort überflog und bei jedem kursiv gesetzten Wort innehielt. Tatsächlich. Da stand es: Vaterländische Gesänge. Aber warum um Himmels willen hatten sie den Titel mit Gesänge übersetzt?
Egal.
»Ich nehme es«, sagte ich. »Was wollen Sie dafür haben?«
»Bitte?«
»Was kostet es?«
»Darf ich mal kurz sehen … Hundertfünfzig Kronen, bitte.«
Ich bezahlte, er legte das Buch in eine kleine Tüte und reichte es mir zusammen mit der Quittung, die ich in die Gesäßtasche stopfte, ehe ich die Tür öffnete und mit der baumelnden Tüte in der Hand hinausging. Draußen regnete es. Ich blieb stehen, streifte den Rucksack ab, steckte die Tüte hinein, zog den Rucksack wieder an und setzte meinen Weg die hell erleuchtete Einkaufsstraße hinauf fort, wo der stundenlange Schneefall keine anderen Spuren hinterlassen hatte als eine graue matschige Schicht auf allen Flächen, die höher als der Erdboden lagen: Dachvorsprünge, Fensterbretter, Statuenköpfe, Verandaböden, Markisen, die so herabhingen, dass die Leinwand am äußersten Rand des Rahmens leicht ausbeulte, Mauerränder, Mülleimerdeckel, Hydranten.
Auf der Straße dagegen nicht. Schwarz und nass lag sie da und glänzte im Licht von Fenstern und Straßenlaternen.
Der Regen ließ ein wenig von dem Gel, das der Friseur in
meine Haare einmassiert hatte, in die Stirn fließen. Ich strich es mit der Hand weg, wischte es am Hosenbein ab, entdeckte auf der rechten Straßenseite eine Toreinfahrt und ging hin, um mir dort eine Zigarette anzuzünden. Hinter ihr lag ein langer Garten mit mindestens zwei Gartenterrassen von Restaurants. In der Mitte ein kleiner Springbrunnen. An der Wand neben der Eingangstür stand der Name des Schwedischen Schriftstellerverbands. Das war ein gutes Zeichen. Der Schriftstellerverband gehörte zu denen, die ich anrufen wollte, um mich nach einer Bleibe zu erkundigen.
Ich zündete die Zigarette an, zog das Buch heraus, das ich gekauft hatte, lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und blätterte ein wenig halbherzig darin.
Hölderlin war für mich seit langem ein vertrauter Name gewesen. Nicht, dass ich ihn systematisch gelesen hätte, im Gegenteil, ein paar sporadische Gedichte in Olav Hauges Sammlung von Nachdichtungen war alles, wenn man einmal davon absah, dass ich in groben Zügen, ganz oberflächlich, von dem Schicksal wusste, das
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