Lieber Dylan
und unglücklich, als wüsste sie, dass sie eines Tages eine neue, viel bessere Chance im Leben bekommt. Aber was ist, wenn sie keine bekommt? Und außerdem ist es ja nicht nur ihr Leben, das sie ruiniert.
Ich habe ihr die Broschüren gegeben. Gestern Abend, als ich nach Hause kam. Der Ton-Zerstörer hatte angerufen, um zu sagen, dass er mit seinen Kumpels weggehen und erst heute früh zurück sein würde, also dachte ich, das wäre die perfekte Gelegenheit. Ich dachte, sie hätte so sehr die Nase voll von ihm, sie würde die Chance, ihm zu entkommen, ergreifen. Aber sie ist durchgeknallt. Sie hat gesagt, ich hätte kein Recht, ihr zu sagen, was sie zu tun hätte, und ich wäre ja bloß ein Kind und hätte keine Ahnung. Und dann habe ich ihr von dir erzählt. Ich hatte es nicht vor, aber sie hat mich so aufgeregt, ich wollte, dass sie weiß, dass es auch einen Erwachsenen gibt, der der Meinung ist, dass sie den Ton-Zerstörer verlassen sollte. Ich wünschte allerdings, ich hätte es ihr nicht erzählt, denn das machte die Sache noch eine Million Mal schlimmer.
Zuerst habe ich gesagt, »eine erwachsene Freundin von mir« sei der Ansicht, sie solle ihn verlassen, und sie sei auch diejenige, die mir die Broschüren besorgt hätte. Kaum hatte ich es gesagt, da wusste ich, dass es ein großer Fehler gewesen war. »Was für eine erwachsene Freundin?«, fragte sie und goss sich einen Wodka ein, wobei sie nicht mal versuchte, ihn wie sonst in einem Glas Cola zu verstecken. Ich spielte mit dem Gedanken, ihr von Dylan und der Website zu erzählen und dass ich dachte, ich würde ihm mailen, doch in Wirklichkeit warst du es, aber das war überhaupt nicht schlimm, denn letzten Endes habe ich dadurch die beste Freundin gefunden, die ich je hatte. Aber dann wurde mir klar, dass es die Sache nur noch komplizierter machen würde, also sagte ich: »Die Mutter von einer Freundin.« Danach wurde sie still und nahm einen großen Schluck von ihrem Drink. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, vielleicht kamen ihr Zweifel, vielleicht würde sie mich in die Arme nehmen und sagen, wie leid es ihr täte und wie recht ich hätte, und sie würde jetzt gleich die Leute von Refuge anrufen. Aber ich irrte mich gewaltig.
»Du hast kein Recht, meine persönlichen Angelegenheiten mit deinen Freundinnen und ihren Müttern zu besprechen«, zischte sie mich an, und ihre bleichen Wangen wurden knallrot. »Tony ist mein Mann, und ich weiß, er kann ein bisschen …« Sie unterbrach sich und sah sich im Zimmer um (offensichtlich suchte sie nach einem netten Ausdruck für widerlicher, tyrannischer Psychopath). »Ich weiß, er kann manchmal ein bisschen schwierig sein, aber ich liebe ihn.« Noch nie habe ich das Wort Liebe in einem so flachen, leblosen Ton gehört. Und ich habe ihr keine Sekunde lang geglaubt. »Wie kannst du nur?«, schrie ich. »Wie kannst du ihn lieben? Er ist nichts anderes als ein egoistischer Tyrann. Und was sagst du zu der Art, wie er mich behandelt? Ist dir das ganz egal?« Merkwürdig ist, dass sie wirklich schockiert wirkte, als ich das sagte. Ihre großen grauen, leblosen Augen weiteten sich, und ihr Mund öffnete sich. »Was meinst du damit?«, fragte sie. Und das war’s dann. Ich fing an zu schreien und konnte nicht mehr aufhören. All die Sachen, die sich in mir aufgestaut hatten, die Dinge, die ich dir gemailt habe, statt sie ihr zu erzählen, sprudelten aus mir heraus. Auch dass ich unbedingt Schauspielerin werden will, und wie sehr ich mich gefreut habe, endlich mal eine anständige Rolle zu bekommen, und wie ich den Theater-Workshop geliebt hatte, und wie ich die ganze Zeit über furchtbare Angst hatte, dass alles herauskäme und der Ton-Zerstörer mir etwas tun würde, mich zusammenschlagen würde, wie er die Dusche zusammengeschlagen hatte. Und wie er mir den Arm verletzt hatte an dem Tag, an dem er es herausgefunden hatte, und dann das, was mir am meisten wehtat, die schrecklichen Dinge, die er über Dad gesagt hat. Und wie sie immer nur wie ein verängstigter kleiner Schatten im Hintergrund herumlungerte. »Du solltest meine Mutter sein«, schloss ich. »Du solltest für mich sorgen und auf mich aufpassen, aber du bist ja immer viel zu sehr damit beschäftigt, dich um dich selbst zu kümmern.« Und dann rannte ich nach oben in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett und weinte und weinte und wartete darauf, dass ihre Schritte auf dem Treppenabsatz knarren würden und dass das Bett einsinken würde, weil sie
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