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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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habe ich Percy engagiert. Doch die Schotten sind unberechenbar. Sandy hat mit nie dagewesener Freundlichkeit angenommen, und ich mußte Percys Anstellung in aller Stille wieder rückgängig machen!

    Dienstag.
    Ist es nicht komisch, daß belanglose Leute oft das, was im Augenblick gerade in ihrem Kopf vorgeht, vor einem ausleeren? Sie scheinen keinen Restbestand leichten Gesprächsstoff zu haben und können niemals eine Krise in den Hintergrund schieben, um das Wetter zu besprechen.
    Ich komme durch einen Besuch darauf, den ich heute hatte. Eine Frau wollte das Kind ihrer Schwester einliefern, — die Schwester mit Tuberkulose im Sanatorium; wir sollen das Kind behalten, bis die Mutter kuriert ist, obwohl ich nach dem Bericht fürchte, daß das nie der Fall sein wird. Aber jedenfalls waren alle Formalitäten erfüllt, die Frau brauchte das Kind nur abzugeben und konnte gehen. Aber da sie zwischen zwei Zügen ein paar Stunden Zeit hatte, äußerte sie den Wunsch, sich umzusehen; also zeigte ich ihr die Zimmer des Kindergartens und die kleine Krippe, in die die Lily kommt, und unser gelbes Eßzimmer mit seinem Fries von Häschen, damit sie der armen Mutter so viele erfreuliche Einzelheiten wie möglich erzählen könne. Da sie müde wirkte, lud ich sie danach gastlich ein, in meinen Salon zu kommen, und eine Tasse Tee zu trinken. Doktor MacRae war auch gerade zur Hand und in einer hungrigen Verfassung (ein seltener Zustand für ihn; er läßt sich jetzt ungefähr zweimal im Monat zu einer Tasse Tee mit den Beamten der Anstalt herab); er kam auch, und so wurde es eine kleine Gesellschaft.
    Die Frau schien zu denken, daß die Last der Unterhaltung ihr zufalle, und um Konversation zu machen, erzählte sie uns, daß ihr Mann sich in ein Mädchen verliebt habe, das in einem Kino Billette verkauft (ihrer Beschreibung nach war die Verführerin ein geschminktes, gelbhaariges Ding, das wie eine Kuh Kaugummi kaut), und daß er sein ganzes Geld für das Mädchen ausgebe und nur nach Hause komme, wenn er betrunken sei. Dann schlage er die Möbel klein, das sei furchtbar. Eine Staffelei mit dem Bild ihrer Mutter, die sie schon vor ihrer Ehe besessen habe, habe er nur aus Spaß am Krach umgeworfen. Und schließlich hatte sie das Leben satt; also trank sie eine Flasche Sumpfwurzel, weil jemand ihr gesagt hatte, es sei giftig, wenn man alles auf einmal nehme. Aber sie ist nicht daran gestorben, sondern nur krank geworden. Und er ist zurückgekommen und hat gesagt, er werde sie erwürgen, wenn sie noch einmal so was versuche; daraus schließt sie, er müsse doch noch etwas an ihr hängen. All’ das ganz nebenher, während sie ihren Tee umrührte.
    Ich habe mich vergeblich bemüht, etwas Passendes zu sagen. Es war ein gesellschaftlicher Notstand, der mich verstummen ließ. Aber wie ein Gentleman zeigte sich Sandy der Situation gewachsen. Er hat wunderschön und weise mit ihr gesprochen und sie m einem geradezu erhobenen Zustand fortziehen lassen. Wenn er es versucht, kann unser Sandy ungewöhnlich nett sein, vor allem mit Leuten, die keinen Anspruch an ihn haben. Es gehört wohl zur Berufsethik, daß das Heilen des Gemüts ebenso Teil der ärztlichen Aufgabe ist wie das Kurieren des Körpers. Die meisten Gemüter in der Welt scheinen es nötig zu haben. Als Folge von diesem Besuch habe ich es jedenfalls nötig. Seitdem frage ich mich dauernd, was ich tun würde, wenn ich mit einem Mann verheiratet wäre, der mich wegen eines Kaugummi-Mädchens verließe, und der beim Heimkommen die Zierstücke zerschlüge. Aus den Theaterstücken, die diesen Winter aufgeführt werden, schließe ich, daß das jedem passieren könnte, vor allem, wenn er zur besten Gesellschaft gehört.
    Du solltest dankbar sein, daß Du Jervis hast. Es ist etwas furchtbar Zuverlässiges an einem Mann wie ihm. Je länger ich lebe, desto überzeugter bin ich davon, daß Charakter das einzige ist, was zählt. Aber wie soll man das je wissen? Die Männer können so gut reden!
    Leb wohl, und frohe Weihnachten für Jervis und beide Judys.

    PS. Es wäre eine freundliche Aufmerksamkeit, wenn Du meine Briefe etwas schneller beantworten würdest.

John-Grier-Heim,
    29. Dezember.
    Liebe Judy!
    Sadie Kate hat diese Woche damit zugebracht, einen Weihnachtsbrief an Dich zu verfassen, und so bleibt mir nichts zum Erzählen übrig. Ach, es war eine wunderbare Zeit! Abgesehen von allen Geschenken und Spielen und Schleckereien, machten wir Schlittenfahrten auf Heu, hatten

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