Lieber Feind
nach Hause zu begeben, wo ich mich geruhsam niederlassen könnte, um einige Monate lang „SMB“ in die Tischtücher zu sticken, genau wie jedes andere ordentliche, verlobte Mädchen.
Ich wiederhole mit Nachdruck, daß dieser Brief nicht für Jervis bestimmt ist. Zerreiße ihn in kleine Stücke, und verstreue sie im Karibischen Meer.
S.
3. Januar.
Lieber Gordon!
Du hast recht, verärgert zu sein. Ich weiß, daß ich keine zufriedenstellende Liebesbrief-Schreiberin bin. Ich brauche nur einen Blick auf den gedruckten Briefwechsel von Elisabeth Barrett und Robert Browning zu werfen, um zu wissen, daß die Wärme meines Stils nicht den gesetzten Maßstab erreicht. Aber Du weißt schon — und Du hast es lange gewußt —, daß ich kein sehr gefühlvoller Mensch bin. Ich nehme an, daß ich viele ähnliche Dinge schreiben könnte, wie: „Jeden wachen Augenblick füllst Du meine Gedanken aus.“ „Mein Lieber, ich lebe nur, wenn Du in der Nähe bist.“ Aber es wäre nicht unbedingt wahr. Du füllst nicht alle meine Gedanken aus; 107 Waisen tun das. Und ich lebe wirklich ganz angenehm, ob Du nun hier bist oder nicht. Ich muß natürlich sein. Du willst doch gewiß nicht, daß ich mehr Trostlosigkeit mime, als ich wirklich fühle. Aber wenn ich Dich sehe, bin ich ehrlich glücklich — das weißt Du genau — und bin enttäuscht, wenn Du nicht kommen kannst. Ich bin mir Deiner bezaubernden Eigenschaften voll bewußt, aber, mein Lieber, ich kann einfach auf dem Papier nicht sentimental sein. Ich denke immer an das Dienstmädchen im Hotel, das die Briefe liest, die Du zufällig auf der Kommode hegen läßt. Du brauchst nicht zu beteuern, daß Du sie in der Nähe Deines Herzens trägst; denn ich weiß genau, daß Du das nicht tust.
Falls jener Brief Deine Gefühle verletzt hat, bitte ich deswegen um Verzeihung. Seitdem ich in die Anstalt gekommen bin, bin ich in bezug auf Trinken außerordentlich empfindlich; Du wärst es auch, wenn Du gesehen hättest, was ich sah. Einige meiner Kücken sind die traurigen Ergebnisse von alkoholischen Eltern, und sie werden ihr ganzes Leben lang nie eine echte Chance haben. Man kann sich an einem Ort wie diesem nicht umsehen, ohne dat em det Hart im Liv umdreiht un man in’t Grüveln kümt. Du hast, fürchte ich, recht, daß es echt weiblich ist, erst ein großes Getue zu machen, daß man einem Mann verzeiht, und dann doch immer wieder von der Sache anzufangen. Nun, Gordon, ich weiß tatsächlich nicht, was das Wort „verzeihen“ bedeutet. Es kann nicht „vergessen“ mit einschließen; denn das ist ein physiologischer Vorgang, der von keinem Willensakt abhängt. Wir haben alle eine Sammlung von Erinnerungen, die wir gerne vergessen würden, aber irgendwie sind gerade sie es, die beharrlich darauf bestehen, hängen zu bleiben. Wenn „verzeihen“ bedeutet, daß man nie mehr über eine Sache spricht, so kann ich das gewiß bewältigen. Aber es ist nicht immer das Klügste, eine unangenehme Erinnerung in sich einzuschließen. Sie wächst und wächst und durchsetzt alles wie Gift.
Du meine Güte! Ich hatte wirklich nicht die Absicht, das alles zu sagen. Ich versuche weiterhin die vergnügte, sorglose (und etwas leichtsinnige) Sallie zu sein, die Du so magst; aber ich bin im vergangenen Jahr mit sehr viel Wirklichkeit in Berührung gekommen, und ich fürchte, ich habe mich zu einer ganz anderen Person entwickelt als derjenigen, in die Du Dich verhebt hast. Ich bin kein lustiges junges Ding mehr, das mit dem Leben spielt. Ich kenne es nun ziemlich gründlich, und das bedeutet, daß ich nicht immer lachen kann.
Ich weiß, daß das wieder ein scheußlich unerfreulicher Brief ist, — genau so schlecht wie der letzte, und vielleicht noch schlimmer —, aber wenn Du wüßtest, was wir gerade durchgemacht haben! Ein Bub — mit sechzehn — mit unsagbarer Vererbung hat sich fast vergiftet mit einer ekelhaften Mischung aus Alkohol und Zaubernuß. Wir haben drei Tage an ihm geschafft, und sind jetzt nur sicher, daß er sich genügend erholen wird, um es wieder zu tun! „De Welt es got, awer de Lüt up er sint siecht.“ Bitte verzeih das Schottische. Es ist mir herausgeschlüpft. Bitte verzeih alles.
Sallie.
11. Januar.
Liebe Judy!
Ich hoffe, meine beiden Telegramme haben Dich nicht zu sehr erschreckt. Ich hatte solche Angst, daß Du es auf indirektem Weg erfahren könntest. Sonst hätte ich Dir den ersten Bericht brieflich geschickt, und das hätte eine Beschreibung aller
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