Lieber Feind
J. F. Bretland ist ein reicher, einflußreicher Bürger, herzlich beliebt bei seinen Freunden, tief verhaßt bei seinen Feinden (entlassene Angestellte, die sich nicht scheuen zu erklären, er sei ein har-r-ter Mann). Er ist in bezug auf den Kirchenbesuch etwas wacklig, aber seine Frau scheint regelmäßig zu gehen, und er gibt Geld.
Sie ist eine reizende, gütige, kultivierte Dame, die nach einem nervösen Zusammenbruch soeben ein Jahr im Sanatorium zugebracht hat. Der Arzt sagt, was sie braucht, ist ein starkes Lebensinteresse, daher gibt er den Rat, ein Kind zu adoptieren. Sie hatte schon immer ein Verlangen danach, aber ihr harter Mann hat es eigensinnig abgelehnt. Doch schließlich, wie’s dann ist, war es die zarte, zähe Gattin, die den Sieg davontrug, und der harte Mann war gezwungen, nachzugeben. Unter Verzicht auf seine natürliche Vorliebe für einen Buben verfaßte er, wie oben, die übliche Bitte um ein blauäugiges Mädchen. Sie hat gerade von einem ausgezeichneten englischen Kindermädchen gehört, das sie haben könnte, aber sie weiß nicht, ob es nicht besser wäre, mit einem französischen Fräulein anzufangen, so daß das Kind die Sprache lernen kann, bevor seine Stimmbänder festgelegt sind. Sie war auch höchst interessiert, als sie hörte, daß Betsy ebenfalls im College war. Sie könne sich nicht entschließen, ob sie das Kind ins College schicken soll oder nicht. Was Betsy meine? Wenn das Kind Betsys eigene Tochter wäre, würde sie es dann ins College schicken?
All’ das wäre komisch, wenn es nicht so rührend traurig wäre; aber mich verfolgt der Gedanke an diese arme einsame Frau, die Puppenkleider für das unbekannte kleine Mädchen näht, von dem sie nicht weiß, ob sie es bekommen wird. Sie hat ihre eigenen beiden Babys vor Jahren verloren: oder vielmehr, sie hat sie nie gehabt, denn sie waren nicht am Leben.
Du siehst, was für ein schönes Zuhause das sein würde. Es wartet so viel Liebe auf das kleine Ding, und das ist mehr wert als der ganze Reichtum, der ja in diesem Falle noch dazukommt.
Aber die Schwierigkeit ist jetzt, das Kind zu finden, und das ist nicht einfach; die J. F. Bretlands sind so scheußlich exakt in dem, was sie verlangen. Ich habe haargenau den kleinen Buben für sie, aber mit dem Schrank voller Puppen ist er unmöglich. Die kleine Florence geht nicht, — ein zähes Elternteil ist am Leben. Ich habe eine große Auswahl Ausländer mit feuchten braunen Augen, — geht überhaupt nicht. Mrs. Bretland ist eine Blondine, und die Tochter muß ihr ähnlich sehen. Ich habe einige süße kleine Dinger mit unsagbarer Vererbung, aber die Bretlands wünschen sechs Generationen von Vorfahren, die zur Kirche gingen, mit einem Kolonialgouverneur am Ende. Außerdem habe ich noch ein allerliebstes Lockenköpfchen (und Locken werden immer seltener), aber unehelich. Und das scheint in den Augen adoptierender Eltern ein vollkommen unüberwindliches Hindernis zu sein, obwohl es in Wahrheit das Kind nicht anders macht. Die Bretlands verlangen streng eine Heiratsurkunde.
Es bleibt unter den ganzen einhundertundsieben nur ein Kind übrig, das geeignet scheint. Der Vater und die Mutter unserer kleinen Sophie sind bei einem Eisenbahnunglück umgekommen, und daß sie nicht auch den Tod fand, kam einfach daher, daß man sie zur Operation eines Abszesses am Hals in einer Klinik zurückgelassen hatte. Sie kommt aus gutem, durchschnittlichen amerikanischen Bestand, der in jeder Hinsicht unbescholten und langweilig ist. Sie ist ein verwaschenes, dummes, weinerliches kleines Ding. Der Doktor hat sie mit seinem geliebten Lebertran und Spinat vollgestopft, nur Fröhlichkeit konnte er ihr nicht einflößen.
Aber individuelle Liebe und Pflege bringt ja wirklich bei Anstaltskindern oft Wunder zustande, und sie mag nach einigen Monaten des Verpflanztseins zu etwas Seltenem und Schönem erblühen. Also habe ich gestern eine begeisterte Schilderung ihrer fleckenlosen Familiengeschichte für J. F. Bretland gemacht, und angeboten, sie in Germantown abzuliefern.
Heute früh kam ein Telegramm von J. F. Bretland: Keineswegs! Er hat nicht die Absicht, irgendeine Tochter unbesehen zu kaufen. Er wird am nächsten Mittwoch um 3 Uhr kommen und das Kind persönlich besichtigen.
Mein Gott! Wenn sie ihm aber nicht gefallen sollte! Wir richten nun alle unsere Energien darauf, die Schönheit des Kindes zu erhöhen, — wie bei einem jungen Hund, der zur Hundeausstellung soll. Findest Du, es wäre furchtbar
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