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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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vorbeigefahren, und ich konnte Dich und Jervis deutlich am Geländer lehnen sehen. Ich habe wie wild gewinkt. Aber Ihr habt Euch nicht mit der
    Wimper bewegt. Euer Blick war voll Heimweh auf die Spitze des Woolworth-Gebäudes gerichtet.
    In New York begab ich mich in ein Warenhaus, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Als ich durch die Drehtüre hereinging, — wer drehte sich in der anderen Richtung heraus? Helen Brooks! Wir hatten fürchterliche Mühe, zusammenzukommen, weil ich versuchte, rückwärts heraus, sie rückwärts hereinzukommen. Ich dachte, wir würden uns ewig umeinanderdrehen. Aber wir sind schließlich doch noch zusammengekommen, haben Hände geschüttelt, und sie hat freundlich geholfen, fünfzehn Dutzend Paar Strümpfe, fünfzig Mützen und Strickjacken und zweihundert Stück Unterwäsche einzukaufen. Dann haben wir den ganzen Weg bis zur 52. Straße geschwätzt, wo wir im Klub der Akademikerinnen zu Mittag aßen.
    Ich habe Helen immer gemocht. Sie ist nicht auffallend, aber beständig und zuverlässig. Wirst Du je vergessen, wie sie seinerzeit das Komitee für das Theaterstück der Oberklasse in die Hand nahm und in Ordnung brachte, nachdem Mildred solch ein Kuddelmuddel gemacht hatte? Wie würde sie sich als Nachfolgerin für mich eignen? Beim Gedanken an eine Nachfolgerin platze ich vor Eifersucht, aber ich nehme an, ich muß ihm ins Auge schauen.
    „Wann hast Du Judy Abbott zuletzt gesehen?“ war Helens erste Frage.
    „Vor fünfzehn Minuten“, sagte ich. „Sie hat eben die Segel in Richtung spanischer Ländereien gesetzt mit einem Gatten, einer Tochter, einem Kinderfräulein, einem Mädchen, einem Diener und einem Hund.“
    Hat sie einen netten Mann?“
    „Es gibt keinen besseren.“
    „Und liebt sie ihn noch?“
    „Hab nie eine glücklichere Ehe gesehen.“
    Es fiel mir auf, daß Helen etwas traurig aussah, und plötzlich kam mir der ganze Klatsch in den Sinn, den Marty Keene uns letzten Sommer erzählt hat. Infolgedessen bin ich mit dem Gespräch hastig auf ein so sicheres Thema wie Waisenkinder übergegangen.
    Aber später hat sie mir selbst die ganze Geschichte erzählt, so unbeteiligt und unpersönlich, als berichte sie von Personen aus einem Buch. Sie lebt jetzt allein in der Stadt und sieht fast niemanden, und sie schien niedergeschlagen und froh, reden zu können. Die arme Helen! Sie scheint ihr Leben völlig verkorkst zu haben. Ich kenne niemand, der in so kurzer Zeit soviel Terrain zurückgelegt hat. Seit dem College-Abschluß hat sie geheiratet, hat ein Baby gehabt und es verloren, hat sich von dem Mann scheiden lassen, hat sich mit ihrer Familie überworfen und ist in die Stadt gezogen, um sich ihren Unterhalt zu verdienen. Sie liest Manuskripte für einen Verlag.
    Vom gewöhnlichen Standpunkt aus war scheinbar kein Grund für eine Scheidung vorhanden. Die Ehe hat einfach nicht funktioniert, sie waren keine Freunde. Wenn er eine Frau gewesen wäre, hätte sie keine halbe Stunde verschwendet, um mit ihm zu reden. Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätte er gesagt: „Freut mich, Sie zu sehen. Wie geht’s?“ und wäre weitergegangen. Aber sie haben geheiratet. Ist es nicht entsetzlich, wie blind diese Sex-Angelegenheit einen machen kann?
    Sie ist in der Anschauung großgezogen worden, daß der einzig rechtmäßige Beruf der Frau darin besteht, ein Heim zu gründen. Als sie das College beendet hatte, war sie natürlich voll Eifer, ihren Beruf zu ergreifen. Henry zeigte sich, ihre Familie hat ihn genau betrachtet und ihn in jeder Hinsicht vollkommen gefunden, — gute Familie, gute Moral, gute Geldverhältnisse, gutes Aussehen. Helen war in ihn verliebt. Es gab eine große Hochzeit mit vielen neuen Kleidern und vielen Dutzend gestickter Handtücher. Alles sah verheißungsvoll aus.
    Aber als sie sich nach und nach kennenlernten, mochten sie weder die gleichen Bücher und Witze, noch die gleichen Menschen oder Vergnügungen. Ei war überströmend, gesellig, lustig, und sie nicht. Zuerst haben sie sich gelangweilt, dann gereizt. Ihre Ordnungsliebe hat ihn ungeduldig, seine Unordnung sie wild gemacht. Sie hat einen Tag daran gewendet, die Schränke und Kommodeschubladen in Ordnung zu bringen, er hat sie in fünf Minuten um und um gewühlt. Er ließ seine Kleider herumliegen, daß sie sie aufhebe, und seine Handtücher in einem klitschigen Haufen auf dem Boden des Badezimmers, und nie hat er die Wanne sauber gemacht. Und sie ihrerseits war furchtbar kalt und irritierend — sie

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