Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
ältere Frau und einen jungen Mann, die sich auf einem Friedhof begegnen. Was die beiden dort miteinander bereden, kann ich Dir gar nicht mehr wiedergeben. Der Inhalt ist auch damals schon an mir vorbeigeflogen. Schließlich stand Deine Geburt unmittelbar bevor, und das war das wahre Ereignis in meinem Leben: Vater werden.
Sechs lange Wochen war ich mit meinen Kollegen in der Zuckerbäckerstadt Heidelberg. Die Stadt sieht genau so aus, wie sich amerikanische Touristen eine alte deutsche Stadt vorstellen. Mit verwinkelten Gassen, Fachwerkhäusern und einer Burg hoch über dem Fluss. Dementsprechend voll ist es. Morgens auf dem Weg ins Theater musste man sich schon durch Heerscharen von Urlaubern in Trainingsanzügen schlängeln. Die marschierten selbst bei eisigen Temperaturen in kurzen Hosen durch die Gassen und benahmen sich wie in Disneyland. Kennen ja auch nichts anderes.
Anna hat – wie schon bei Dreier – das Bühnenbild und die Kostüme gemacht. Mit ihr und ihrer kleinen, anderthalbjährigen Tochter habe ich übrigens zusammengewohnt, während Du in Hamburg in Mamis Bauch kräftig herumgestrampelt hast. Wir teilten uns eine Wohnung wie eine Familie, und ich war für die kleine Minna auf einmal eine Art Papa-Ersatz, obwohl ich selbst noch gar keiner war. Ein Papa-Trainingslager. Es hat die Sehnsucht nach meiner eigenen Familie jedenfalls ziemlich verstärkt. Ich habe auf Dich gewartet, Dich erwartet, während ich den Schauspielern dabei zusah, wie sie ihren Text lernten.
Am Abend vor Deiner Geburt hatten wir den ersten Durchlauf auf der Bühne. Der Intendant und der Autor waren auch da. Der junge Schauspieler, der die männliche Hauptrolle spielte, hatte wirklich ernsthafte Probleme mit dem Text, alles wirkte unecht und künstlich. Ich habe es kaum geschafft, ihm ein natürlich klingendes Wort zu entlocken. Also habe ich ihn gebeten, das Stück in seinem Heimatdialekt aufzusagen. Das ist bei schwierigen Texten ein ganz guter Trick, damit man beim Spielen nicht mehr nachdenkt. Einfach drauflosquatschen. Gerade als ich dachte, dass sich etwas tut bei ihm, dass er lockerer wird, fängt der kleine Intendant in der letzten Reihe an zu schreien. Mit seiner hohen Stimme kreischt er mich an. Wie Pumuckl. Was uns einfiele. Nichts könne man vom Text verstehen. Und überhaupt sei es so dunkel auf der Bühne, dass man auch nichts sehen könne. Wenn wir die Leute aus dem Theater jagen wollten, seien wir auf dem besten Weg.
Damals haben mich diese Respektlosigkeit und Oberflächlichkeit tief verletzt. Als Assistent hatte ich solche Situationen schon oft miterlebt. Aber da waren immer andere gemeint gewesen. Das lernt man auch auf keiner Schule. Mit unangemessener Kritik umgehen. Wo ich mich schon mit angemessener Kritik schwertue. Ich habe mich gefühlt wie Du, wenn ich Dich zu Unrecht anschnauze: kurz vor den Tränen.
Ich habe tief Luft geholt und dem Intendanten den Stand der Dinge erklärt. Dass der Junge es schwer hat gegen die routinierte Kollegin. Dass es nur eine Lichtstimmung gibt, die über die Länge des Stücks immer heller wird. Zum Glück war der Autor von unserer Arbeit überzeugt. Das hat den Zwerg beruhigt, und er ist gegangen. Ich bin mit Anna und dem jungen Schauspieler zurückgeblieben und habe die Hospitantin gebeten, ein paar Dosen Bier und Wodkafläschchen zu besorgen. Letzter Trick: den Text betrunken sprechen lassen. Er macht es ganz okay, aber am Ende bin ich betrunkener als der Schauspieler und kegle als Reaktion auf die Demütigung die gesamte Bestuhlung um. Die Stahlstühle machen einen Höllenlärm. Der Schauspieler fühlt sich für meine Verzweiflungstat verantwortlich und gelobt Besserung. Ich torkle in unser Gästeapartment und schlafe angezogen ein. Am frühen Morgen wache ich auf, als das Telefon klingelt.
Ada ist dran. Es ist so weit. Was? Ich weiß im ersten Moment gar nicht, was sie meint. Sie war schon nachts im Krankenhaus, aber die haben sie noch mal weggeschickt. Ihre beste Freundin Bärbel ist bei ihr.
»Wo warst du denn?«
»Im Bett. Erkläre ich dir später. Ich fahre sofort los.«
Ich bin schlagartig nüchtern, schnappe meinen Geldbeutel und rufe Anna zu, dass es losgeht.
»Viel Glück!«
»Danke.«
Scheiße, warum kommt das Taxi nicht? Mach schon. Vom Krankenhaus gegenüber sind schon drei Taxen weggefahren. Mann. Mach zu.
»Guten Morgen.«
»Zum Bahnhof. Ich kriege ein Kind!«
»Wo denn?«
»In Hamburg.«
»Ach Gott. Ist ja toll.«
»Ja.«
»Ich gebe
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