Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Gas.«
»Bitte.«
Aber es reicht nicht. Der Zug fährt gerade aus dem Bahnhof.
»Scheiße.«
»Macht nichts, den holen wir ein bis Mannheim.«
Jetzt gibt er wirklich Gas, und wir schaffen es tatsächlich. Ich kann gerade noch in den Zug reinspringen. Fünf unerträglich lange Stunden muss ich nun hier sitzen, und mich erfasst eine wahnsinnige Aufgeregtheit. Ähnlich wie in den Stunden vor einer Premiere, in denen man auch nichts mehr ändern kann. Nicht mehr eingreifen kann. Loslassen muss. Oberflächlich freue ich mich, darunter lauert ein See der Ungewissheit und Angst. Kann ich das alles? Werde ich ein guter Vater sein? Geht das überhaupt, wenn man kein adäquates Vorbild hat? Das ist gar nicht böse gemeint. Aber Opa Richard war die größte Zeit meiner Kindheit in Frankfurt, und ich habe ihn kaum gesehen. Und Bernhard wollte und konnte kein Vater sein. Ein väterlicher Freund vielleicht. Onkel Hans-Peter? Der hat seine eigenen Kinder kaum gesehen vor lauter Arbeit. Ein Club von vaterähnlichen Figuren. Als-ob-Väter. Der greifbarste Vater in meinem Umfeld war Onkel Christian. Streng, klar und doch unendlich liebevoll. So vielleicht. Aber kann man sich das vornehmen?
Durch das Zugfenster dringt der Duft von Kerzenwachs. Fulda. Die Eika-Kerzenfabrik. Noch drei Stunden. Kurznachrichten von Ada. Sie liegt zu Hause in der Wanne. Ich schrumpfe in meinem Sitz zusammen. Kann dieser Scheißzug nicht schneller fahren? Bitte.
Göttingen. Hannover. Endlich Hamburg. Es ist bereits Nachmittag. Ada stampft wie von Dir ferngesteuert durch die Wohnung. Sie hält es noch aus. Tapfer. Ich bekomme eine ängstliche Ahnung von dem, was noch vor uns liegt. Vor ihr. Am frühen Abend gehen wir ins Krankenhaus. Es ist glücklicherweise auf der anderen Straßenseite. Die kommenden Stunden vergehen wie in Trance. Ein schlafähnlicher Zustand der vollkommenen Konzentration. Das Universum kreist um Adas Bauch. Der kleine Geburtsraum ist erfüllt von Deinen Herztönen. Sie klingen wie Nachrichten aus einer anderen Welt.
Draußen tobt ein mächtiger Sturm, drinnen schreit und wimmert es überall. Ich fühle mich hilflos, aber nicht überflüssig. Ich bemühe mich, anwesend zu sein. Wie spät ist es? Wo ist eigentlich der Mann mit der Spritze? Der Betäubungsspezialist. Er soll Ada eine Kanüle direkt ins Rückenmark legen. Ohne geht es nicht. Ich wäre schon längst gestorben vor Schmerzen. Während er endlich die Kanüle legt, halte ich sie im Arm. Ihr Wimmern ist mit Abstand das Schlimmste, was ich jemals gehört habe. Es zerreißt mir das Herz. Die Hebamme macht uns noch einmal Mut und schwört uns auf das Finale ein. »So. Jetzt noch mal mit voller Kraft.« Kurze Zeit später ist es so weit. Die Ärztin erscheint und stellt sich vor Adas geöffnete Beine wie ein Footballspieler. Zack. Mit einem gewaltigen Stoß schleudert Ada ihr ein blutiges Bündel in die Arme. Ich schreie laut auf. Er ist da. Er ist da! Matz ist da! Er ist endlich da! Der berühmte erste Schrei. Ruhe. Die Ärztin schneidet Dich von Mami los, und ich darf Dich mit der Hebamme das erste Mal waschen. Sie wickelt Dich in ein weißes Handtuch und übergibt Dich endgültig an mich. Ich kann mich gar nicht an Dir sattsehen und stammele immerfort: »Mein Sohn«, während Ada völlig erschöpft auf der Liege kauert. Ich zeige Dich ihr, aber mehr als ein mattes Lächeln kriegt sie nicht mehr hin. Dann lagst Du eine gefühlte Ewigkeit in meinem Arm. Deine Augen waren geöffnet, und Du warst ganz ruhig, und ich konnte mir ein Leben ohne Dich nicht mehr vorstellen. Was für eine Nacht.
Mein lieber Junge, ich liebe Dich über alles.
Das wird immer so sein. Egal, was geschieht.
Gute Nacht.
die Erinnerung an Deine Geburt hat mir wieder Kraft gegeben. Ich habe ein Ziel vor Augen. Ich will mich zusammenraufen. Für Dich. Für mich. Das Erinnern hilft, meine ich. Etwas klärt sich. Ich werde mir meines Weges bewusst. Der Strecke, die ich schon gerannt bin. Jetzt mache ich eine Pause und sehe mir das an. Mit Dir zusammen. Auch wenn Du nicht direkt neben mir sitzen kannst, bist Du doch immer da. Das ist seit Deiner Geburt so.
Zwei Tage konnte ich danach noch bleiben, dann musste ich nach Heidelberg zurück und den Unsinn zu Ende bringen. Unsinn deshalb, weil mir das Theater seit Deiner Geburt so unwichtig vorkam. Der Widerstand abzureisen war enorm. Wie bei einem Hund, der mit fremden Menschen Gassi gehen soll und sich mit aller Macht dagegenstemmt, weil er nicht aus dem Haus
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