Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Teppichboden und den roten Ledersessel aus der Kantine. Langsam machte ich daraus ein Prinzip meiner Arbeit. Oder war es eher ein Zwang? Denn bei Nicht nichts hatten wir ebenfalls kurz vor der Premiere auf zentrale Bühnenelemente verzichtet.
Wir waren eine richtige Bande. So wie Du und Bruno und Otto damals im Kindergarten. Eine Jungsbande, unbesiegbar und aufeinander eingeschworen, da konnte kein anderer dazwischen. Bei uns war das genauso. Das ist im Theater übrigens ganz oft so. Weil man so viel von sich preisgeben muss. Das kann man nur, wenn man den anderen vertraut. Frisch hat immer gesagt, Theater ist wie Archäologie. Nur dass wir nicht nach uralten Fundstücken der Menschheitsgeschichte suchen, im Theater wühlen wir uns durch Texte und graben in uns selbst. Manchmal finden wir etwas. Manchmal ganz viel. Manchmal fast nichts. Weil man aber auf der Suche oft an Grenzen stößt, vor allem an die eigenen, lernt man sich in kurzer Zeit sehr intensiv kennen. Dadurch wächst man zusammen wie eine Familie oder eben wie eine Bande.
Der Abend war ein großer Erfolg. Die Leute haben gar nicht mehr aufgehört mit dem Klatschen, und wir haben alle hinter der Bühne vor Freude und Erschöpfung geweint. Ich bin fast geflogen vor Glück. Ich hätte dieses Gefühl gerne in eine Schachtel getan. Für schlechte Zeiten. Aber erstens bin ich schlecht im Aufheben, und zweitens ist das schlicht unmöglich.
Man wird süchtig nach diesem Gefühl. Man möchte es immer wieder genau so erleben. Die tollen Proben. Die Liebe zu den Kollegen. Das Verschmelzen mit dem Text. Die Liebe, die einem vom Publikum entgegengebracht wird. Der Applaus, der nicht aufhört. Die Leichtigkeit in Herz und Gemüt. Die Selbstsicherheit.
Aber dieses Gefühl lässt sich nicht festhalten. Es lässt sich auch nicht wiederholen.
Man kann nur daran arbeiten. Es wieder und wieder versuchen.
Ich war mir sicher, dass es mir immer wieder gelingen würde.
Ich habe mich überschätzt. Das weiß ich jetzt.
Und was fange ich mit dieser Erkenntnis an?
Das weiß ich noch nicht.
das Briefeschreiben lässt mich an vergangene Zeiten denken. Mit der Erinnerung kommen auch die Gefühle zurück. Das ist nicht immer schön. Aber es muss sein. Um zu verstehen, warum ich hier gelandet bin.
Nach dem Erfolg von Dreier durfte ich schließlich auf der großen Bühne inszenieren. Was für ein Ritterschlag. Assistentenkollegen, die wesentlich älter und auch besser ausgebildet waren als ich, bekamen nicht mal ein Stück auf einer der kleinen Bühnen. Und ich marschierte von der kleinsten Spielstätte direkt auf die große Bühne. Der Intendant traute mir offensichtlich eine Menge zu.
Ich sollte Das doppelte Lottchen von Erich Kästner inszenieren. Das haben wir schon zusammen gelesen. Erinnerst Du Dich? Die Geschichte von den zwei kleinen Mädchen, die im Ferienheim feststellen, dass sie eigentlich Zwillinge sind, aber durch die Trennung der Eltern auseinandergerissen worden sind. Am Ende der Ferien beschließen sie, ihre Rollen zu tauschen.
Auch bei dieser Inszenierung hatte ich wieder richtig großes Glück. Eine traumhafte Besetzung, ein Stück mit einer klaren Geschichte und ein Bühnenbildner, der genau so arbeitete, wie ich mir das vorgestellt hatte. Wunderbar schlichte Bilder, alles sah aus wie mit leichter Hand dahingemalt. Das Doppelte Lottchen wurde ein großer Erfolg, und ich war der glücklichste Mensch der Welt.
Inzwischen waren einige andere Theater auf mich aufmerksam geworden, und ich fing an, auch außerhalb von Hamburg zu arbeiten. Zuerst in Heidelberg. Dort gibt es einmal im Jahr ein Treffen, auf dem Inszenierungen neuer Stücke vorgestellt werden. Wir wurden mit Dreier dorthin eingeladen. Der damalige Intendant bot mir noch am Abend der Aufführung ein eigenes Stück an. Ich war sehr geschmeichelt, denn ich wollte ja nun ein Regisseur sein. Vor allem wollte ich für Euch sorgen können. Mami war mit Dir im siebten Monat schwanger, und wir waren in eine größere Wohnung in meinem Viertel gezogen. Also musste ich Geld verdienen.
Das Stück hieß Späte Wut . Der Mann, der es geschrieben hat, war zu dieser Zeit Schauspieler, Regisseur, Oberspielleiter und Autor. Ein richtiger Tausendsassa. Die Österreicher sagen Wunderwuzzi zu solchen Leuten, die so viele Begabungen haben, dass sie eigentlich gar nicht unter einen Hut passen können. Wunderwuzzi finde ich klasse.
Mich hat das Stück unfassbar angestrengt. Eine gänzlich absurde Geschichte über eine
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