Lieber Onkel Ömer
nasser Hund!
»Gleich bekommst du es noch realistischer, du Idiot!«, brüllte ich und packte ihn am Kragen. »Du weißt ja sowieso bereits,
wie man sich als Toter fühlt!«
Wäre der Regisseur nicht dazwischengegangen, hätte ich das neue Jahr wohl oder übel als Mörder beginnen müssen, was gewiss
nicht schön gewesen wäre! Aber so viel Realität wollte er dann wohl doch nicht haben und rettete seine Leiche vor einem erneuten
Tod.
|13| Lieber Onkel Ömer, nach all diesen schlechten Erfahrungen der letzten Jahre hatte ich am gestrigen Silvesterabend meine Erwartungen
deutlich zurückgeschraubt und wollte das neue Jahr mit meiner Frau zusammen glücklich und zufrieden und in aller Bescheidenheit
bei meinen lieben Freunden Nedim und Hümeyranim empfangen.
Wir hatten den ganzen Abend über lecker gegessen und es uns vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Jedes Mal, wenn ich gerade
aufs Klo gehen wollte, war es leider schon wieder besetzt. Eine Toilette für dreißig Leute – die Kinder noch nicht mal mitgerechnet
– ist auch ein bisschen wenig. Kurz vor dem großen Knall – damit meine ich nicht die Knallerei draußen – eroberte ich dann
endlich das stille Örtchen, das mittlerweile fast so aussah und roch wie die Autobahnklos in Serbien.
»Osmaaaann, wo bist duuuu, Osmaaaannn? Was machst du daaa in der Toiletteeeee, Osmaaaann?«, hörte ich plötzlich Eminanim vor
der Tür herumschreien. Wenn sie in der Nähe ist, bleibt natürlich kein Örtchen lange still.
»Eminanim, was denkst duuuu deennn, was ich wohl in der Toilette macheeee?«, brüllte ich genauso laut zurück.
»Osman, das ist doch wieder typisch«, schimpfte sie weiter, »kein Mensch außer dir würde je auf die Idee kommen, sich an Silvester
Punkt Mitternacht im Klo einzusperren! Alle anderen Männer küssen gerade ihre lieben Frauen und wünschen ihnen alles Gute
fürs neue Jahr!«
Ich schaute panisch auf meine Armbanduhr! Bei Allah, sie hatte völlig recht! Es war sogar schon zwei Minuten nach zwölf!
»Osman, das wird wieder mal ein richtig mieses Jahr für dich! Du wirst zwölf Monate lang nichts als Scheiße am |14| Hals haben! Toll hast du das wieder gemacht, herzlichen Glückwunsch«, keifte sie beleidigt durch die Tür.
Lieber Onkel Ömer, als ich dann gestern also an Silvester auf dem Klo saß und mir überlegte, woran es wohl liegen konnte,
dass meine Jahresplanung jedes Mal so grandios in die Hose ging, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass mit Sicherheit
meine nicht eingehaltenen guten Vorsätze an meinem Elend schuld sind. Deshalb habe ich jetzt einen neuen Vorsatz, den ich
auf jeden Fall einhalten werde: Du wirst von mir jeden Monat zwei Briefe bekommen, ob Du willst oder nicht, ich meine, ob
meine Frau daran glaubt oder nicht!
Ich küsse Dir, Tante Ülkü und allen Älteren in unserem schönen Dorf ganz herzlich mit großem Respekt die erfahrenen Hände
und allen Jüngeren mit viel Liebe die hübschen, unschuldigen Augen.
Eminanim und die Kinder grüßen Euch selbstverständlich auch und küssen den Älteren mit viel Respekt die Hände und den Jüngeren
mit viel Liebe die Augen.
Pass gut auf Dich auf, bleib gesund, iss genug Knoblauch und danke fünfmal am Tag Allah, dass Euer schönes Plumpsklo draußen
auf dem Hof ist. Und sag dem faulen Postboten Münür, dass er sich in diesem Jahr auf was gefasst machen kann.
Dein Dich über alles liebender Neffe aus dem sehr kalten Alamanya
|15| PS: Lieber Onkel Ömer, diese Nachricht schreibe ich Dir absichtlich auf einen extra Zettel, damit nicht das ganze Dorf und
meine Mutter davon erfahren. Es ist nämlich etwas sehr Dubioses hier passiert. Meine Mutter würde sich nur Sorgen machen –
so wie ich!
Stell Dir vor: als ich neulich nach der Spätschicht um Mitternacht nach Hause kam, da saß Eminanim immer noch mit einer Freundin
in der Küche. Die Frau heißt Ümmüyanim, und ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. So lange sitzt Eminanim eigentlich nie mit
einer ihrer Freundinnen zusammen, weil sie doch am nächsten Tag die ganzen Kaufhäuser und die Flohmärkte unsicher machen muss.
Aber es war eine ganz neue Freundin, und offenbar hatten sie ein sehr interessantes Thema, für das es sich lohnte, auf den
geliebten Schlaf und auf das noch geliebtere Schopping zu verzichten. Mit geröteten Augen lästerten und tratschten sie, was
das Zeug hält. Ich floh sofort ins Schlafzimmer in der naiven Annahme, am
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