Lieber Onkel Ömer
um mein hohes Fieber zu senken, verursachten plötzlich eisige
Temperaturen, sodass meine Zähne klapperten. Ich musste erneut zu Nierentabletten greifen, um mein eingefrorenes Blut wieder
zum Fließen zu bringen. Ich nahm notgedrungen Nierentabletten und Fieberzäpfchen gleichzeitig, um meine Temperatur einigermaßen
konstant zu halten. In der Zwischenzeit hatte mir Eminanim Lindenblütentee gekocht. Er war sehr heiß! Ich pustete, aber dadurch
wurde es noch heißer. Ich sage doch, dass ich wegen dem hohen Fieber richtig am Glühen war!
Weil ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste, habe ich daraufhin sofort den Notarzt gerufen.
|22| Als erste Amtshandlung hat er mir verboten, die Nebenwirkungen von Medikamenten nachzulesen. Und als Zweites verbot er mir
die Medikamente selber.
»Sie haben doch vorhin eine Grippeimpfung bekommen. Die kann schon mal ein sehr leichtes Erkältungsgefühl verursachen, aber
das ist nicht der Rede wert«, sagte er.
Ich tastete meinen Magen und meine Stirn ab und stellte völlig verblüfft fest, dass meine Magenschmerzen und mein Fieber durch
den genialen Notarzt wie weggeblasen waren.
»Sie sind der beste Medizinmann, den ich je hatte, so schnell wurde ich noch nie gesund«, freute ich mich und küsste ihn auf
beide Wangen.
»Nein, gesund sind Sie auf keinen Fall! Ein hoffnungsloser Hypochonder sind Sie!«, schimpfte er plötzlich mit mir.
Kaum war er aus dem Haus, lag ich schon wieder im Sterben!
Ich hätte einen völlig fremden Menschen mitten im Winter nicht so leichtfertig auf beide Wangen küssen dürfen. Wer weiß, wie
viele Millionen Bazillen sich in seinem dreckigen Gesicht tummelten. Ein Notarzt kommt doch an so einem eisigen Tag mit Hunderten
von kranken Menschen zusammen.
Es war klar wie die Hühnerbrühe, die meine Frau Eminanim mir danach gekocht hat,– ich habe mich ganz fürchterlich bei ihm
angesteckt! Lieber Onkel Ömer, jetzt ist es wieder Zeit, meine grünen Tabletten einzunehmen. Die roten sind in fünfunddreißig
Minuten dran. Die gelben erst in zwei Stunden und zwölf Minuten. Die blauen und die braunen nehme ich nur morgens und abends.
Keine Angst, |23| ich werde sie alle pünktlich einnehmen – Indianerehrenwort!
Ich küsse Dir, Tante Ülkü und allen Älteren in unserem schönen Dorf ganz herzlich mit großem Respekt die erfahrenen Hände
und allen Jüngeren mit viel Liebe die hübschen, unschuldigen Augen.
Eminanim und die Kinder grüßen Euch selbstverständlich auch und küssen den Älteren mit viel Respekt die Hände und den Jüngeren
mit viel Liebe die Augen.
Pass gut auf Dich auf, bleib gesund, iss genug Knoblauch und danke fünfmal am Tag Allah, dass es bei Euch im Dorf überhaupt
keine Ärzte gibt und Du Dich nicht an dieser tödlichen Männergrippe anstecken kannst.
Dein Dich über alles liebender Neffe aus dem bitterkalten Alamanya
PS: Lieber Onkel Ömer, ich hatte Dir in meinem letzten Brief von der fremden Frau erzählt, die noch tief in der Nacht mit
Eminanim in unserer Küche saß und Tee trank. Das ist nun schon über zwei Wochen her, und sie ist immer noch bei uns. Obwohl
ich sterbenskrank bin, habe ich mich vorhin mal genauer nach dieser Jugendfreundin erkundigt:
»Ümmüyanim stammt aus unserem Nachbardorf und ist aus der Türkei gekommen, um sich mal ein bisschen Deutschland anzuschauen,
sie war noch nie hier«, sagte Eminanim.
|24| Bis hierher alles gut und schön, jeder kann nach Deutschland kommen, um sich das schöne Land anzuschauen, auch aus unseren
Nachbardörfern, in der Hinsicht bin ich sehr tolerant, Hauptsache, das deutsche Konsulat ist auch sehr tolerant und gibt den
Leuten ein Visum.
Aber dann kam der wirkliche Schock:
»Herr Engin, Ihre Frau Eminanim und ich kennen uns von früher, von der Universität her!«, sagte die fremde Frau ganz locker.
Lieber Onkel Ömer, Du kannst Dir ja wohl vorstellen, dass ich bei diesem unglaublichen Spruch regelrecht vom Stuhl gekippt
bin. Ich bin doch sowieso schon etwas wackelig auf den Beinen. Deswegen weiß ich leider auch noch nicht, was Eminanim, diese
Frau Ümmüyanim und die Universität miteinander zu tun haben. Ich muss mich jetzt erst mal wieder hinlegen. Gute Nacht!
Valentinstag
Mein lieber Onkel Ömer,
wie geht es Dir, und wie geht es meiner lieben Tante Ülkü? Wie geht’s der hübschen Kuh Pembe, wie geht’s der schwarz gepunkteten
Ziege Fatima, wie geht’s Deinem störrischen Esel Tarzan, und
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