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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Tag vergessen. Die Stunden werden vergehen wie im Traum.
    - Super.
    - Ja, sagte Mena. Mein Gott ist nicht grausam. Ein grausamer Gott würde uns nicht helfen zu vergessen. Deshalb sagen wir ja auch Allah akbar. Gott ist groß.
    Mit einem Lächeln zerbiss auch ich die Pillen und spürte, wie sich der bittere Geschmack auf meiner Zunge ausbreitete.
    - Allah akbar.
    Mena schenkte mir dieses wundervolle Lächeln und legte die rechte Hand aufs Herz.
    - Ich muss, sagte sie.
    - Danke. Und bis morgen.
    Aber am nächsten Morgen kam sie nicht. Sie kam überhaupt nicht mehr. Am nächsten Morgen tauchte zwar wie immer die Sonne auf, aber keine Mena. Stattdessen kam eine neue Schwester, eine Australierin. Blond und betont gut drauf. Wenn man sie sah, dachte man unweigerlich: 19-JÄHRIGES PARTY-GIRL SHARLENE BEI KLINIK-BUMS ERWISCHT.
    - Hallo. Was ist denn mit Mena?
    - Sie darf hier nicht mehr arbeiten, sagte die neue Krankenschwester.
    - Wie bitte?
    - Sie war doch Moslem, oder?, sagte die Neue. Sicherheitsrisiko. Seit Mitternacht sind alle Moslems beurlaubt. Endlich schnallen sie es in diesem Land. Also, ich will ja nichts sagen, meiner Meinung nach sind 99 % aller Moslems ganz okay, aber wenn du ein paar von ihnen nicht trauen kannst, kannst du keinem trauen, ist doch so, oder?
    - Und wann kommt sie wieder? Wie lange sind sie denn beurlaubt?
    - Weiß ich nicht, sagte die Neue. Es heißt, sie sind vorüber gehend suspendiert, vorübergehend unbefristet.
    - Und was soll das bedeuten?
    - Mir doch egal. Ich beklag mich bestimmt nicht darüber. Ich brauche den Job.
    -Aber sie können doch nicht einfach alle Moslems rausschmeißen.
    - Tun sie ja auch nicht. Nur die, die Flugzeuge fliegen, in Kliniken arbeiten oder Zugang zu bestimmten Informationen haben.
    - Das ist doch vollkommen bescheuert. Ich werde an meinen Abgeordneten schreiben.
    - Nur zu, sagte die Neue. Ich hoffe bloß, der ist nicht auch Moslem.
    Ich sank in mein Kissen zurück und wartete darauf, dass die Wirkung meiner letzten Valium nachließ. Die Neue hielt nicht mehr meine Hand. Sie sah sich nicht mit mir den Sonnenaufgang an. Sie brachte mir auch keine blauen Pillen, die so schön den Kopf leer machten. Gegen Mittag waren meine Männer an die Stelle gerückt, die die Pillen besetzt gehalten hatten. Es fühlte sich an, als stürben sie im Minutentakt noch einmal.
    Das ging immer gleich los. Ich dachte an meinen Sohn, wie er in seinem Bettchen lag. Er hatte diesen Tiger-Schlafanzug. Ich weiß nicht, ob ich dir das schon erzählt habe, Osama. Sooft ich mir meinen Jungen vorstellte, wie er friedlich in seinem Tiger-Schlafanzug schlief, wurde mir ganz warm ums Herz. Es war einfach die reine, unverfälschte Freude. Aber dann traf es mich wie ein Schlag in die Magengrube, dass er nicht mehr da war. Dann spürte ich die gleiche Leere im Bauch, wie wenn man zu schnell über eine Brücke fährt.

 
    U ND DIESES G EFÜHL hielt tage- und wochenlang an. Es war wie eine Folter. Ich schlief nicht mehr. Und alles, was ich aß, kam sofort wieder hoch. Sie hängten mich an einen Tropf. Sobald ich auf den Tropf sah, hörte ich die Titelmusik von Holby City. Schon der Anblick machte mich fickrig. Ewig beobachtete ich die kleinen Luftbläschen in dem Plastikschlauch zwischen meinem Arm und dem Infusionsbeutel. Ich sah die Bläschen durch die Londoner Skyline aufsteigen, genau zwischen der «Gurke» von Sir Norman Foster und dem Natwest Tower, bis sie am Ende in den Infusionsbeutel hoch über mir verschwanden.
    Nachts kletterte ich aus dem Bett und kroch auf allen vieren durch den Krankensaal. Den Infusionsständer zog ich hinter mir her, aber er ließ sich kaum steuern. Er hatte ein lahmes Rad wie die Einkaufswagen bei Asda. Immer wieder knallte er gegen Betten, Stühle und Nachtschränkchen, und ich hoffte inständig, die anderen Frauen wachten von dem Krach nicht auf. Denn ich klaute ihnen ihre Medikamente vom Nachtschränkchen. Eigentlich hasse ich ja Klauer. Und ich bin auch nicht stolz drauf. Trotzdem fraß ich den anderen Frauen die Pillen weg. Rote oder weiße, lange blaue Kapseln, ich nahm alles. Einige davon machten müde, aber keine ließ mich wirklich vergessen.
    Dann, eines Abends, kam Jasper Black. Ich denke, ich wusste, er würde irgendwann aufkreuzen. Es war während der Besuchszeit, und ich sah ihn durch dieselbe Tür kommen wie Prince William. Er ging auf mein Bett zu. Lächelnd.
    - O Gott, nicht du. Geh weg, verdammt nochmal, ich will dich nicht sehen.
    Er blieb stehen.

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