Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
Vom Netzwerk:
schwimmenden Disko voller Semtex zum Sound von Dexy’s Midnight Runners. Sie filterten alles Leben aus dieser Lebensader, bis nur noch Polizeiboote übrig waren, die flussauf, flussab patrouillierten wie weiße Blutkörperchen.
    Danach waren die Brücken dran. Die meisten wurden einfach gesperrt. Ich habe nie verstanden, was das eigentlich sollte. Aber vielleicht dachte man ja, es würde die Jungs von deiner Terrorzelle in Clapham ganz schön demoralisieren, wenn sie jetzt jedes Mal die M25 nehmen mussten, um in Chelsea eine Bombe hochgehen zu lassen. Am seltsamsten war es bei der Tower Bridge. Eines Morgens, als Mena und ich auf die Stadt sahen, zogen sie sie hoch und ließen sie nie wieder runter. Sie blieb einfach offen. Als würde London darauf warten, daß etwas ganz Großes den Fluss heraufkam.
    Was die Aussicht aber am meisten veränderte, waren die Sperrballons überall. Eines Abends ging ich ganz normal schlafen, und am nächsten Morgen waren sie da. Mena und ich sahen sie an ihren Kabeln dümpeln, silbrig glänzend vor der aufgehenden Sonne. Bei ihrem Anblick überlief es mich kalt. Es war wie in einem Traum. Mena packte mich an der Hand, ich sah die Gänsehaut auf ihrem Arm.
    - Das ist ja furchtbar, sagte sie. Das ist grotesk. Die Welt ist durchgedreht.
    - Ich weiß nicht, mir kommt das ganz vernünftig vor. Ich glaube, das soll sie davon abhalten, mit Flugzeugen in Hochhäuser zu fliegen.
    Mena sah mich an. Sie hatte die schönsten Augen, die man sich vorstellen kann. Karamellbonbonfarben.
    - Hör mal, sagte sie. Ich weiß, bei dem, was du durchgemacht hast, klingt das vielleicht zynisch, aber wir verlieren hier jeden Maßstab. Wenn ich hier oben fertig bin, gehe ich runter in die Onkologie. Ich sage dir, das ist die Hölle. Weißt du, wie viele Leute hier jedes Jahr an Krebs sterben?
    - Nein.
    -33 Tausend, sagte sie. 33-mal so viele wie am 1. Mai. Vor allem sind es größtenteils vermeidbare Todesfälle. Ich sehe diese Leute mit Schläuchen in jeder Körperöffnung. Es dauert Monate, bis sie tot sind. Aber erklärt dieses Land dem Rauchen den Krieg? Nein, tut es nicht. Stattdessen verwandeln wir London in eine Festung. Als könnte das den Terror beenden. Als könnten diese Kerle nicht genauso gut in Manchester oder Pontypridd zuschlagen oder in der Schlange vor einem Eiswagen am Strand von Brighton.
    Ich spürte, wie Menas Hand zitterte. Eine Träne rann seitlich an ihrer Nase herunter und kam an ihrer Oberlippe zum Stehen. Sie hatte da diese ganz feinen blonden Haare, wie sie bei orientalischen Frauen manchmal vorkommen. Ich nahm ihre Hand. Sie war warm und kräftig.
    - Du bist noch sehr jung, Mena. Du hast wohl noch keine Kinder?
    Sie schüttelte den Kopf. Eine weitere Träne tropfte ihr von der Nase. Sie fiel glitzernd in diesen Sonnenaufgang, fiel durch die Sperrballons und den Desinfektionsgeruch und zerplatzte auf dem Linoleum.
    - Glaub mir, wenn du Kinder hättest, könnten sie gegen die Terroristen gar nicht genug unternehmen. Ob das unbedingt logisch ist, ist nicht die Frage, solange es um deine Kinder geht.
    - Für einen Orientalen ist das aber sehr wohl die Frage, sagte Mena.
    - Für wen?
    - Für uns zum Beispiel. Wir sind Muslime, ja? Hast du eine Ahnung, wie das neuerdings ist für uns? Kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühle seit dem 1. Mai, wenn ich auch nur zur Arbeit gehe? Mit welchem Hass die Leute einen angucken? Ich bin der Staatsfeind Nummer eins. Es gibt da auf meinem Weg dieses Bistro, wo hauptsächlich Bauarbeiter und Markthändler verkehren. Heute Morgen sah ich da diesen alten Mann. Er muss so um die 80 gewesen sein. Er las Zeitung, und die Schlagzeile lautete: SO GRAUSAM IST DER ISLAM. Er hat hoch geguckt, als ich vorbeiging. Und mich mit verächtlich verzogenem Mund gemustert. Das ist das Wesen dieses Wahnsinns.
    Er hängt den Himmel voller Sperrballons und gießt Hass in die Augen der Menschen.
    Dann saßen wir beide ganz still und sahen zu, wie unten auf den Straßen das Leben erwachte. Mit all den Ballons im Himmel sah London aus wie eine fliegende Stadt, die an dicken Kabeln durch den Dunst segelte. Als Mena gehen musste, sah sie mich noch einmal an. Ihr Gesicht war noch so jung, aber die Tränen flossen so alt und langsam wie die Themse. Sie holte 4 kleine blaue Pillen aus ihrer Brusttasche und warf 2 davon ein, die anderen 2 bekam ich. Sie zerbiss die Pillen, so wirkten sie schneller.
    - Barmherzige Pillen, sagte sie. Jetzt können wir all das wie der für einen

Weitere Kostenlose Bücher