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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Er war vollkommen überrascht, das sah man ihm an. Er hatte einen gelben Blumenstrauß in der Hand und eine Einkaufstüte.
    - Entschuldige, sagte er. Dann gehe ich wohl besser.
    Ich drehte mich weg und sah aus dem Fenster. London war immer noch da wie eine böse Erinnerung, und mit Jasper Black war es nicht anders, als ich mich wieder umdrehte. Er musterte mich. Ich hatte ein brennendes Gefühl unter der Haut, und ich war sicher, er konnte alles sehen. Als wäre ich der Patient in diesem Spiel Operation. So ein Plastikmensch mit durchsichtiger Haut und inneren Organen, die man Stück für Stück herausnehmen kann. Erst die Plastiklunge, dann die Plastikleber, dann das Plastikherz. Ich war sicher, er konnte bis in mein Innerstes sehen, dorthin, wo die große Leere war.
    - Du bist ja immer noch hier. Ich dachte, du wolltest mich in Ruhe lassen.
    - Wenn du willst, kann ich auch gehen.
    - Genau das will ich.
    - Gut, sagte er.
    Aber er ging nicht, stand nur mit feierlich gefalteten Händen vor dem Bett, der feine Pinkel.
    - Warum bist du überhaupt gekommen?
    Darauf sagte er nichts. Er kam näher und setzte sich auf den braunen Plastikstuhl, der zwischen Bett und Fenster stand.
    Blumen und Einkaufstüte legte er auf den Boden, dann sah er aus dem Fenster. Braun und platt lag London im Abendlicht. 1 oder 2 Minuten saß er so da. Ich schaute auf seinen Nacken, und mir fiel wieder ein, wie ich mich beim ersten Mal in seiner Wohnung daran festgehalten hatte. Zuerst war das auch ganz schön, und ich hatte ein kribbliges Gefühl in den Händen. Doch dann stellte ich mir vor, wie dieser Hals mit abgerissenem Kopf aussehen würde, während das Blut wie Motoröl auf den grünen Linoleumboden tropfte. Auf einmal waren meine Hände ganz kalt.
    - Jasper Black, warum bist du hergekommen? Er sah noch immer aus dem Fenster.
    - London hat sich extrem verändert. Und ich auch.
    Er drehte sich zu mir, schaute mich an. Er war älter, als ich ihn in Erinnerung hatte.
    - Fast wäre ich auch zu dem Spiel gegangen. Ich wollte gerade in meinen Wagen steigen, als ich dich sah. Die Karte steckt noch in meiner Brieftasche. Ich muss dauernd darüber nachdenken. Angenommen, ich wäre zu dem Spiel gegangen und nicht… du weißt schon. Dann wäre ich jetzt… du weißt schon. Deshalb habe ich mir gedacht, falls du irgendwie Hilfe brauchst…
    - Tatsache? Als es um meinen Mann und meinen Sohn ging, warst du mir keine große Hilfe.
    -Du warst auf einmal verschwunden. Ich habe dich überall gesucht, aber du warst nirgends zu finden.
    - Tatsache?
    - Hör mal, sagte er. Ich verstehe ja, dass es für dich schmerz haft sein muss, mich zu sehen. Und ehrlich gesagt kann ich mir auch Schöneres vorstellen, als dich hier zu besuchen. Erst wollte ich gar nicht kommen.
    - Warum hast du es dann getan?
    Jasper Black sah aus dem Fenster und dann wieder auf mich.
    - Ich kriege dich einfach nicht aus dem Kopf, sagte er. Ich sehe dich allein in deiner Wohnung, und niemand ist da, für den du Fischstäbchen machen kannst. Zugegeben, es ist eine blöde Vorstellung, aber du stehst vor dem Backofen und brichst plötzlich in Tränen aus.
    - Da hast Recht, es ist ein blöde Vorstellung.
    - Ja, sagte Jasper Black. Aber ich wollte wenigstens mal vorbei kommen und sehen, ob es dir gut geht. Es ist seltsam, aber vor dem 1. Mai wäre mir das alles am Arsch vorbeigegangen.
    Jasper Black beugte sich über das Bett und berührte meine Schulter. Wie gut er roch, so sauber nach Seife. Doch als ich die Augen schloss, sah ich bloß wieder die Osttribüne in Rauch und zerfetztem Fleisch untergehen. Ich schrie. Die anderen Frauen machten ts-ts und tuschelten. Jasper Black nahm mich in den Arm. Ich wollte das nicht und warf mich hin und her, aber er hielt mich weiter fest, bis ich mich halbwegs beruhigt hatte und nur noch leise vor mich hin schluchzte. Nach einer Weile flüsterte er mir ins Ohr.
    - Gestern habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich dachte nur noch, was, wenn sich jetzt keiner um dich kümmert. Wenn du hier ganz allein im Krankenhaus liegst und dich keiner besuchen kommt.
    - Wieso sollte mich keiner besuchen? Hör mal, ich komme aus dem East End, ich habe meine Oma, meine Mutter, 14 Tanten und 10 Schwestern und dann die Mädchen aus dem Friseursalon, alle kommen und veranstalten einen Riesenwirbel: Ach du Scheiße, Kind, was machst du für Sachen? Aber das wird wieder, was hältst du von einer schönen Tasse Tee? Also keine Angst, mir wird schon geholfen.
    - Aber das stimmt

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