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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Orden an, während diese Leute jeden Morgen ihre müden Gesichter im schmutzigen Badezimmerspiegel altern sehen. So dieser Ausdruck etwa.
    Ich starrte jetzt meinerseits ihn an und fühlte mich gar nicht gut dabei. Der Gestank meiner Kotze stieg langsam hoch. Er lächelte zwar, aber man sah ihm eben auch an, dass er dachte, ich bin der Prinz der Kotze, und eines Tages werde ich König der Kotze sein.
    - Hoheit, es tut mir so leid.
    - Aber ich bitte Sie, sagte er. Das macht doch nichts. Aber wir beide wussten: Es machte sehr wohl was.
    Als Prince William fort war, fuhren sie die Dialysemaschinen hinaus. Uns ließen sie wieder allein.

 
    D IE F RAU IN DEM T WEEDKOSTÜM war übrigens Trauerberaterin. Solange ich im Krankenhaus lag, kam sie zweimal die Woche vorbei, und wir sprachen über meinen Verlust. Sie glaubte tatsächlich, das würde helfen. Sie selbst hatte allenfalls mal ihre Autoschlüssel verloren. Einmal schlug sie sogar vor, ich sollte mich einer Selbsthilfegruppe von Müttern anschließen, die am 1. Mai ihre Kinder verloren hatten, aber ich sagte, nee, lassen Sie mal, solche Sachen waren noch nie so mein Ding.
    Am Ende hat mir die Aussicht aus dem Fenster mehr geholfen als das ganze Gelaber. Sie legten mich nämlich in ein Bett am Fenster um, wo man auf die ganze Stadt runterschauen konnte und es wieder Tag und Nacht gab. Das Krankenhaus war übrigens das Guy’s. Vielleicht kennst du das ja, Osama. Vielleicht hast du ja schon überlegt, wie man es am besten in die Luft jagen kann.
    Das Guy’s ist jedenfalls ein hoher, verdreckter Kasten voller Elendsgestalten. Wenn du dich jemals dran erinnern willst, dass du eines Tages elendiglich zugrunde gehen wirst, dann schau ihn dir an, du kannst ihn fast von ganz London aus sehen. Von meinem Fenster weit oben überblickte ich alles, von der Canary Wharf bis St. Paul’s, davor die Themse wie eine fette, schwärende Wunde.
    London und ich erholten uns nur langsam. An allen Ecken und Enden schützten sie die Stadt. Etwas Ähnliches machten sie auch mit mir. Ich bekam Hand und Knie eingegipst, und nach 4 OPs hatten sie mich innerlich so weit zusammengeflickt, dass die Blutungen aufhörten. Und das war’s dann. Jetzt konnte ich nur noch abwarten, bis ich wieder gesund wurde. 6 Wochen lang starrte ich aus dem Fenster und erlebte, wie sie London in eine Festung verwandelten.
    Mena war meine Lieblingskrankenschwester. Ein nettes Mädchen. Sie wohnte in Peckham, aber ihre Familie kam aus dem Osten. Kasachstan oder Usbekistan oder so, aus irgendeinem dieser -stans jedenfalls. Sie hat es mir 2- oder 3-mal gesagt, aber ich konnte es mir nie merken. Sie meinte, dort sei es viel schöner als in Peckham, aber wo auf der Welt ist es nicht schöner als in Peckham?
    Mena hatte immer die Frühschicht. Um 5 kam sie zum Fiebermessen, immer als Erstes zu mir, weil ich da schon wach war. Und wenn die anderen Frauen noch schliefen, setzte sie sich zu mir auf die Bettkante, und wir schauten uns gemeinsam den Sonnenaufgang über den Docklands an. Als Erstes erglühten die Bürotürme in zartem Rosa. Dann stieg riesig und schmutzig orange wie ein weiches, warmes Eidotter die Sonne über den Horizont, erst noch verschwommen im Frühdunst, dann immer kleiner und härter und so hell, dass man nicht mehr hineinblicken konnte. Mena nahm immer meine Hand, wenn wir so auf die City schauten. Ihre Hand war klein und hart wie die Sonne.
    - So viele Menschen da unten, sagte sie immer. So viele Menschen unter diesem Sonnenaufgang. So viele Menschen, die jetzt gerade aufwachen und nichts anderes wollen, als den Tag zu überstehen.
    Ja, so war Mena. Eine echte Philosophin. Ohne sie hätte ich mich bestimmt umgebracht.
    Menas Philosophie begann mit Valium. Jeden Morgen brachte sie mir 2 davon aus dem Medikamentenschrank. 2 kleine blaue Pillen. Ich nahm sie täglich. Eine für meinen Mann und eine für meinen Jungen. Mena warf auch selbst welche ein. Deshalb sah sie immer alles so gelassen. Aber daraus kann man ihr keinen Vorwurf machen, Osama, nicht wenn man in Peckham leben muss.
    So vergingen die Wochen fast wie von selbst. 2 Valium zu Sonnenaufgang ist ein 1a-Rezept gegen Stress. Und jeden Morgen beobachteten Mena und ich, was sich in London wieder so alles tat. Zuerst stoppten sie den Schiffsverkehr. Keine Schnellfähre, kein Disko-Schiff, kein Sightseeing-Boot durfte mehr fahren. Das haben sie gemacht, damit du nicht auch noch unser Parlament in die Luft sprengst, Osama, vielleicht mit einer

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