Lieber Osama
Verlagshaus geschafft hatte, war an der Sache dran. Ich war einer der Letzten. Inzwischen gab es überall Straßensperren. Die U-Bahn fuhr auch nicht, alles steckte fest. Also verfassten Klatschjournalisten Berichte über mögliche Terrorverdächtige. Der Ressortleiter Sport schrieb 1500 Wörter zum Thema ES WAR DIE HÖLLE. Und sechzehnjährige Praktikanten sammelten INTERNATIONALE REAKTIONEN AUF DEN ANSCHLAG. Es waren noch ganze 3 Stunden bis Redaktionsschluss. Der Chef vom Dienst hatte einen Herzinfarkt, brach buchstäblich tot über seinem Keyboard zusammen. Absolut der Wahnsinn. Du hättest dabei sein sollen.
- Nee, laß mal. Nicht mein Ding.
- Meins auch nicht, sagte Jasper. Ich wollte mir eigentlich nur Petra schnappen und so schnell wie irgend möglich raus aus diesem Chaos. Aber Petra war nicht in ihrem Büro. Ich fragte über all herum, aber niemand wusste, wo sie steckte. Ich fing an, mir Sorgen zu machen. Irgendwann war ich vollkommen neben der Spur, dachte, vielleicht ist ihr ja in der Panik was passiert. Und tatsächlich, es war was passiert, und so wie Petra gestrickt ist, ließ sie sich diese Chance nicht entgehen.
- Und? Ging es ihr gut?
Mehr als das, sagte Jasper. Ich fand sie schließlich im Büro des Herausgebers, wo sie den Leitartikel schrieb. Sie war die Einzige in dem Laden, die nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn her umlief. Ich sah sie durch die Glaswand. Sie saß seelenruhig am Computer, trank ihre Diet Coke und schrieb 500 Wörter über EIN LAND, VEREINT IM ENTSETZEN. Ich sah ihre Nägel über die Tastatur klicken. Petra hat wunderschöne Fingernägel. Ich klopfte an die Scheibe, und sie sah zu mir hoch. In diesem Moment wurde mir alles klar. Sie schaute mich an wie einen Fremden. Dieser kurze Blick verriet zunächst nichts als völliges Unverständnis, erst dann veränderte er sich. Ich konnte sogar die Sekunde bestimmen, in der sie mich erkannte. Mich. Ihren Lebensgefährten seit 6 Jahren. Dann sah ich, wie sie sich ihre wunderbar manikürten Finger vor den Mund hielt, weil ihr vor Schreck die Luft wegblieb. Und ich wusste genau, ihr blieb nicht die Luft weg, weil ich ziemlich fertig aussah mit meiner gebrochenen Nase und dem Blut auf meinem Jackett. Auch nicht, weil ihr ein Stein vom Herzen fiel, dass ich überlebt hatte. Nein, sie war so erschrocken, weil ihr zum ersten Mal seit dem Anschlag einfiel, dass ich überhaupt existierte. Und sie wusste, dass ich das mitbekommen hatte.
Jasper schaute nicht mehr auf mich, sondern aus dem Fenster. Er sprach ganz ruhig.
- Also betrat ich erst mal das Büro. Petra nahm ihre Hände von der Tastatur, aber so, als hätte ich sie gestört und als sei das jetzt ein ganz blöder Moment. Wir sagten nichts. Eine Minute lang starrten wir uns an, dann ging ich hinaus. Ich ging zu Fuß nach Hause, 5 Meilen durch das Chaos. Mein Gesicht schwoll an, und die Leute sagten Sachen zu mir, die ich nicht hören konnte. Wie Fische im Aquarium. Ich ging nach Hause und setzte mich still aufs Sofa, und als es dunkel wurde, saß ich weiter da. Ich musste nachdenken. Gegen 10 Uhr abends kam Petra und machte das Licht an. Hör mal, sagte sie, tut mir leid, okay? Entschuldige, dass ich nicht gleich angerufen habe. Ich bin ja so froh, dass dir nichts passiert ist. Aber mir ist was passiert, sagte ich darauf. Ich begreife nicht, wie du einfach so zur Arbeit gehen konntest, ohne auch nur ein einziges Mal an mich zu denken. Ach Jas, sagte Petra, ich habe mich doch jetzt entschuldigt, oder? Außerdem haben sie mir den Leitartikel gegeben. Den Leitartikel, Jas, verstehst du das denn nicht? Und sie haben ihn Wort für Wort übernommen. So etwas passiert einem doch so schnell kein zweites Mal.
Jasper seufzte. Im Neonlicht der Station sah seine Haut fast grünlich aus.
- Ich habe sie nur kurz angesehen, sagte er. Ich weiß nicht, ob ich jemals so fertig war wie in diesem Augenblick. Ich sah Petra an und dachte nun: Mein Gott, du bist so hübsch und intelligent und lebenslustig, und gleichzeitig bist du nichts als ein kaltes, gefühlloses Biest. Und ich merkte, wie sie mich ansah und dabei dachte: Untersteh dich, du Arsch, ausgerechnet mir ein schlechtes Gewissen zu machen, wo wir doch alle wissen, dass du wieder mal in der Gegend rumgevögelt hast. Sie weiß es, verstehst du? Sie weiß, was zwischen dir und mir gelaufen ist. Keine Ahnung, woher, aber sie weiß es. Vielleicht hat sie es in meinen Augen gesehen. Na gut, da waren wir. Starrten uns an, verabscheuten einander,
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