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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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sagten kein einziges Wort. In dem Moment bekam ich es mit der Angst. Ich meine, es war ja nicht nur Petra. Alle, die ich kenne, sind so. So kalt und gefühllos. Kein Einziger hat mich an diesem Abend angerufen, um zu hören, was mit mir ist. Und weißt du auch, warum? Weil ich selbst so ein kaltes, gefühlloses Schwein bin. Warum sollte mich jemand anrufen?
    Jasper Black zuckte die Achseln.
    - Du selbst hast es ja auch gesagt, nur etwas netter. Als du meintest, ich sei egoistisch bis auf die Knochen. Aber das läuft auf dasselbe hinaus. Mein Leben ist sinnlos. Ich habe nur Freunde, denen es weitgehend egal ist, ob ich von der Bombe eines Selbstmordattentäters zerfetzt werde oder nicht. Naja, zur Not gibt es ja noch das Koks.
    Ich schaute in Jaspers bleiches Gesicht, das unter den Neonröhren ganz krank aussah. Hinter ihm in der Nacht glitzerten Millionen Lichter wie Strass. Ich seufzte. Scheiß-London. Jasper stand auf und kauerte sich vor mein Bett. Etwa in Kniehöhe legte er den Kopf auf die Decke.
    - Die Welt ist beschissen, sagte er.
    - Klar, aber wir wurden nun mal hineingeboren. Also was willst du machen?
    Ich konnte mich nicht rühren und sah nur zu, wie er dort lag. Wir blieben so, bis die Besuchszeit zu Ende war und Jasper ging, um die Nacht mit Petra Sutherland zu verbringen.

 
    D ANACH SCHLIEF ICH noch schlechter. Als du meinen Mann und meinen Jungen verbranntest, Osama, hast du auch meinen Schlaf verbrannt, also setzte ich mich einfach auf den braunen Plastikstuhl und blickte auf London hinunter. Jasper kam noch ein paar Mal, brachte mir Vitamine mit und Sachen aus meiner Wohnung. Nichts davon brauchte ich auch nur halb so dringend wie ihn, wenn er seinen Kopf auf mein Bett legte, aber das konnte ich ihm nie sagen.
    Eines Abends schaute ich wieder aus dem Fenster. Eigentlich wollte Jasper mich noch besuchen, aber er kam nicht. Draußen war Vollmond, und die Sperrballons glänzten still am Himmel. Es war Freitag, doch die Straßen waren leer wegen der Ausgangssperre, nur Mannschaftswagen der Polizei patrouillierten langsam durchs Viertel. Die Wagen hatten Nummern auf dem Dach und fuhren nach einem ganz bestimmten System. Ich zählte sie, wenn sie ihre Runden drehten, aber müde wurde ich davon nicht. Man soll ja Schäfchen zählen, wenn man nicht schlafen kann, Osama, und ich hoffe bloß, mit Schäfchen funktioniert es besser als mit Streifenwagen. Dort, wo du bist, hast du wahrscheinlich jede Menge Schäfchen und Zicklein zu zählen. Oder tote kleine Geiseln, worauf du bestimmt schläfst wie ein Baby.
    Ich lag jedenfalls wach und hörte die Frauen im Saal schnarchen, stöhnen oder nach der Schwester rufen. Es ging mir extrem mies in dieser Nacht. Ich hatte niemanden. Ich schaute hinunter auf die Lichter von London, die nacheinander ausgingen. Ich hätte nie gedacht, dass da so viele Lichter ausgehen konnten. Gegen 3 Uhr früh hielt ich es nicht mehr aus. Normalerweise wäre ich jetzt aufgestanden und hätte die Glotze angemacht, um mich abzulenken, aber auf der Station gab es kein Fernsehen, nur Radio 4. Also beschloss ich, mich umzubringen.
    Aber sich im Guy’s Hospital umzubringen ist gar nicht so einfach. Ich nehme an, sie machen das absichtlich so, denn ich war bestimmt nicht die Erste, die die Nase voll hatte. Zum einen lassen die Schwestern nichts Scharfes rumliegen. Ich wollte mir die Pulsadern aufschneiden, aber der einzige halbwegs messerähnliche Gegenstand war die Kante des Essenstabletts. Ich brach das Tablett durch und säbelte mit der Kante an meinem Handgelenk herum. Ich weiß nicht, ob du schon mal versucht hast, dir mit einem Plastiktablett die Pulsadern aufzuschneiden, Osama, aber es ist reine Zeitverschwendung. Es kratzt eher, statt zu schneiden, und nach 10 Minuten ist alles ein bisschen wund, aber damit hat sich’s dann auch.
    Ich schaute mich im Krankensaal um, was ich sonst noch probieren könnte. Ich bin ein einfaches Mädchen, Osama, keine Heldin oder so. Aber wenn ich mich erst mal für was entschieden habe, bleibt es dabei. Und diesmal hatte ich beschlossen, mich umzubringen, und was mich fickrig machte, war bloß der Gedanke, dass ich noch lebte. Ich sagte mir, vergiften wäre jetzt gut. Deshalb kroch ich noch mal durch den Saal, sammelte ein, was ich an Pillen fand, und zerrieb sie unter einem Rad meines Infusionsständers zu einem feinen Pulver. Es müssen mindestens 20 gewesen sein, in allen Farben und Formen. Am Schluss ergaben sie ein hässliches graues Puder. Ich

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